120. Dom zu Aachen

[99] Da der Dom zu Aachen erbauet ward, hehr und prächtig, drohte es zu gehen wie beim Dombau zu Köln; es gebrach an Geld, der Bau konnte nicht fortgeführt werden, und unvollendet stand das herrliche Münster. Da erschien vor dem hohen Rat ein reicher Fremder, der sagte, er habe wohl Geldes die Fülle, wolle das auch geben zu dem Dombau, damit er vollendet werde, aber ein hoher Rat müsse ihm auch etwas versprechen. Als nun der Rat den Fremden fragte, was es denn sei, das er begehre, da antwortete jener: Nicht viel, nur die Seele des Ersten, der nach der Vollendung den Dom betreten wird, verlange ich zu eigen. Muß damals eine fromme Menschheit gelebt haben, daß sich's einer so viel kosten ließ, um einer Seele habhaft zu werden, hat sie später schockweise billiger haben können – der Rat aber merkte nun, daß der Fremde der Teufel sei – schauderte, zauderte, bedachte sich lange, sagte aber doch zu, unter dem Beding, daß der Pakt geheimgehalten werde. Und ward nun mit besonderer Kunst und Hülfe das Münster schnell und herrlich ausgebaut, ward aber auch das Geheimnis ruchtbar unter den Leuten, und wollte niemand in den Dom gehen, weder Pfaffen noch Laien. Der Teufel lauerte Tag auf Tag auf die erste arme Seele, und ward ihm schier Zeit und Weile lang, es kam niemand, und da bedräute er den hohen Rat, daß er bald genug einen aus seiner Mitte holen werde, wenn er nicht bald einen ersten Kirchengänger schaffe. Da ward dem Rat bange, sann auf eine List, ließ im Gebirg einen Wolf fangen, diesen an das Haupttor des Domes bringen, ließ die Glocken lauten, wie zum hohen Feste, und stieß, nachdem das Portal geöffnet war, den Wolf ins Gotteshaus, wo der Teufel schon so lange lauerte, da es noch nicht geweiht war. Alsbald fuhr der Teufel zu und packte mit einem Griff den armen Wolf, daß ihm alsbald die Seele aus dem Halse fuhr. Wie aber der Teufel sah, daß er nur eine schlechte Wolfsseele erlangt hatte, fuhr er mit Gebrüll aus dem Tempel und schlug die eherne Türpforte so heftiglich zu, daß sie borst und sich spaltete, und ist der Spalt noch heute zu sehen. Der Rat aber war froh, daß er des Teufels ledig war, und ließ den Wolf und dessen arme Seele in Erz gießen und im Dome befestigen. Die Seele hält das Mittel zwischen einer Artischocke und einem Tannenzapfen.

Andere erzählen diese Sage anders, und zwar also. Der Rat zu Aachen hatte just, als der Teufel seine Bedingung machte, eine arme Sünderin in seinem Gewahrsam, die schon zum Tode verurteilt war, und deren Seele verloren gegeben wurde. Diese Verurteilte nun ward in die Kirche hineingestoßen und ihre Seele vom Teufel in Empfang genommen, der aber deshalb aus Ärger die Tür zuwarf, daß sie borst, weil des Weibes Seele ohnehin schon sein gewesen wäre. Hernachmals goß man das eherne Bild und stellte den Teufel selbst in Gestalt eines unreinen Tieres, des Wolfes,[99] dar, welcher bemüht ist, die Seele in Form eines Tannenzapfens in seinen Rachen hinabzuschlingen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 99-100.
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