216. Der englische Schweiß

[165] Im Jahre 1529 kam aus England eine gefährliche Krankheit, die wurde die Schweißsucht oder der englische Schweiß genannt. In Hamburg gewann sie auf dem Festland den ersten Boden und raffte binnen zweiundzwanzig Tagen tausend Menschen dahin. Von da ging sie weiter nach Lübeck, Wismar, Rostock, Greifswalde, Stettin, Danzig und breitete sich weit umher im Lande aus. Sie flog gleichsam durch die Städte und Länder im Hui. Man schrieb ihre Ursache der eigentümlichen Witterung des Jahres zu: gelinder Winter, trockner Mai, naßkalter Sommer und darauf solche Hitze, daß es unmöglich war, nicht zu schwitzen, und wenn einer nackend gegangen wäre, und mit dieser lähmenden Hitze kam die Sucht.

Zu Lübeck war ein Doktor, der hieß Varus und hatte seines Glaubens halber aus England flüchten müssen, der heilte manchen von der schwitzenden Krankheit. Da Doktor Varus nun ein frommer und glaubenseifriger Mann war und wahrnahm, daß die Geistlichen und ihr Anhang das Evangelium nach der neuen Lehre nicht wollten gelten und sich ausbreiten lassen, so begab er sich zu einem hohen Ratsverwandten mit einem Buche in der Hand und fragte ihn, ob er nicht Gottes Lohn verdienen wolle und wolle helfen, daß eines frommen Mannes Testament möchte bestätigt werden und Rechtskraft erlangen. – Darauf sagte der Ratsherr: Wenn das Testament recht gemacht ist, so wird es ein ehrbarer Rat wohl konfirmieren. – Da hub der Doktor wieder an und sprach: Der es aufgerichtet hat, ist ein guter, frommer Mann und heißt Jesus Christus. Er hat sein Testament mit seinem Tode und seiner Auferstehung bestätigt, will nun ein ehrbarer Rat zu Lübeck dasselbige auch konfirmieren, so wird er Gott einen großen Dienst erweisen. – Der Ratsherr wendete sich um und ließ den Doktor stehen, aber am andern Tage wurde ihm die Stadt verboten.

Die Schweißsucht regierte so heftig, daß mehr als ein Haus ganz verlassen und verschlossen werden mußte. Auf der Universität Rostock wurde im Jahre 1529 kein einziger Student immatrikuliert. Binnen vierundzwanzig Stunden wendete sich die Krankheit zum Leben oder zum Tode. Die hülfreichen Mittel gegen diese Krankheit, welche weder Kinder noch Alte, sondern nur die Kräftigen und Kräftigsten ergriff, waren: nicht überwarmes Lager, aber Bewahrung vor jeder Zugluft, einfachste Kost, Leibesöffnung durch Rhabarbar, reine Luft, sorgsame Wartung; die Kranken sollten sich nicht durch Umwälzen erkühlen, keine Luft unter die Arme kommen lassen. Je stiller der Kranke lag, um so besser, und beim Umkehren, wenn es durchaus nötig, solle er vor aller Luft behütet werden. Auch solle man ihm guten Trost einreden, daß seine Schwitzqual nur eine kurze Zeit daure und er dann genese, solle ihn mit duftendem Rosenwasser bestreichen am Haupt, hinter den Ohren und über dem Nacken und an den Schläfen und ihn starken Weinessig durch die Nase einatmen lassen. Der Essig übertreffe, sagten die Schweißärzte, um vieles Kamphor und Opium. Zum Labetrunk keinen Malvasier, Würzwein, pommerschen Schlurf oder Ratzeburger Rommeldaus, das starke Bier, sondern dünnen Kovent, durch ein Röhrlein gesogen. Gut zum Tranke war auch Ochsenzungen- und Borretschwasser mit Kandiszucker, wenig auf einmal, kaum einen Löffel voll durch ein Rohr. In Anfang der Krankheit mußten die Kranken vor dem Schlafe bewahrt werden, denn Schlaf war der halbe Tod. Nasenbluten, das sich nicht selten einstellte, sollte man nicht zu stillen suchen. Nach dem Verlauf der vierundzwanzig oder achtundzwanzig Stunden vorsichtiger Wechsel[165] der Wäsche, gewärmt, und später zum Getränk Einbeckisch und Güstrower Bier und zuletzt wieder, was jedem schmeckte und was er haben konnte.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 165-166.
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