266. Der Irrgarten

[194] Als die Lust und Neigung, gen Jerusalem zu ziehen und die Heilige Stadt gegen den Feind zu schirmen und zu verteidigen oder wieder einzunehmen, wenn sie in Feindes Händen sei, was des Deutschen Ordens erster Zweck und erste Aufgabe war, bei dem Orden in Abnahme kamen, ward ein Ausweg ersonnen, das Gelübde scheinbar zu erfüllen. Es wurden in der Nähe der befestigten Schlösser Irrgänge mit Gräben und Verschanzungen angelegt, diese stellten die Heilige Stadt vor und wurden Jerusalem genannt, dann wurden[194] Kriegsübungen vorgenommen mit Angriff und Verteidigung. Eine Zeitlang mochte es damit den Rittern ernst sein, bald aber wurde ein Schimpfspiel daraus, eine Kurzweil, die den schwelgerischen Gelagen folgte. Auch bei Riesenburg war ein solcher Irrgarten und in ihm ein großes Kreuz gegraben, da ist es nun geschehen, daß die Ritter, welche den Ernst der Eroberung Jerusalems zum Schimpfspiel verdreht hatten, durch die Irrgänge spuken mußten zu ihrer großen Qual, aber in das Kreuz kamen und durften die Geister nicht hinein. Hatten sie früher ihre Knechte durch den Irrgang gejagt und getrieben, so trieben nun die Knechte die Ritter und wurden hinwiederum von Teufeln getrieben, ein toller Spuk, der durch die Nächte bis zum ersten Hahnschrei währte.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 194-195.
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