43. Die Schwabenschüssel

[44] Zu Speier auf dem Domplatz steht auf einem großen Fußgestelle von Quaderstücken auf drei Staffeln ein großer, tiefer, runder steinerner Napf, mag wohl ein Taufbecken sein aus grauen Zeiten, wie eins vor der Klosterkirchenruine zu Paulinenzelle liegt und anderswo dergleichen auch gefunden werden –[44] das hat in seinem Rand eine Schrift, in Messing gegossen, diese besteht aus lateinischen Versen. Dieses Becken nennen sie dort die Schwabenschlüssel, niemand weiß, warum. Sie hatten aber zu Speier damit einen sondern Brauch, nämlich wenn ein neugewählter Bischof alldort seinen Einzug halten wollte, so ward er nicht alsbald in die Stadt gelassen, sondern mußte vor dem Tore halten bleiben und zuvor geloben, der Stadt Rechte und Freiheiten nicht anzutasten, vielmehr aufrechtzuerhalten, und das angeloben mit Brief und Siegel, dann öffnete der Rat ihm das Stadttor, aber gleichwohl durften nicht mehr als funfzig Mann des Gefolges in ihrer Wehr mit dem Bischof einreiten, und dann ward das Tor wieder hinter ihm zugeschlossen. Danach legte der Bischof seinen Ornat an und ward von Rat und Bürgerschaft und seinem Gefolge geleitet und begleitet bis auf den Domplatz an die Schwabenschüssel, dort nahm die Klerisei den neuen Bischof in Empfang und führte ihn unter einen Thronhimmel in den Dom mit großen Zeremonien und Gepränge. Der Bischof aber ließ nun Wein anfahren und in die Schwabenschüssel fließen, so viel als hineinging, und da konnte trinken, wer wollte, und derer, die wollten, waren immer viele, und der Wein floß endlos in den Napf, ein ganzes Fuder oder auch zweie. Da soff sich zum öfteren die Menge toll und voll, und mancher kam weit hergereist zu diesem Trunke, und ward ihm hernach weh und übel von dem vielen Saufen. Davon ist denn das Sprüchwort entstanden, wenn sich einer übersoffen und die Folgen verspürt: Der reist nach Speier. Andere aber deuten das auf die Reise zum kaiserlichen Kammergericht dortselbst, wohin gar mancher reiste, um zu – appellieren.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 44-45.
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