493. Der Jägerstein

[345] Nicht weit von den Teufelskreisen steht im Schneekopfwalde einsam unter den Bäumen ein Denkstein. Ein Förster zu Gräfenrode, dessen Revier sich bis auf diese Höhen herauf erstreckte, fand hier seinen Tod. Er hatte einen Jägerburschen, welcher sein Vetter war und wirklich Caspar hieß – mit dem er in großem Unfrieden lebte und ihn den Herrn mit Strenge fühlen ließ. Da sich nun droben im Schneekopfreviere zum öftern ein sehr großer feister jagdgerechter Hirsch von vielen Enden, aber über sechzehn, hatte erblicken lassen, so gab der Förster dem Caspar den Auftrag, selben Hirsch zu schießen. Aber wer den Hirsch nicht schoß, war der Caspar, dieweil er ihn, und wenn er ihn auch ganz nahe vor dem Lauf hatte, stets fehlte, und wenn er nun nach Hause kam, so mußte er Hohn und Spottreden über sein Ungeschick in Menge vernehmen, und in Gesellschaft, wenn die Weidgenossen der Umgegend droben auf der Schmücke oder im Auerhahn oder zu Oberhof beim Trunke zusammensaßen, da sagte jener Förster oft spöttisch in Caspars Gegenwart: Ja, mein Vetter, der Caspar, was der für einen Treffer hat, das ist unglaublich – es glaubt's niemand! Der trifft im Finstern, daß man gar nicht sieht, was er geschossen hat! – und dergleichen Stichelreden mehr. – Das wurmte nun den Caspar gehörig, und da er an einem alten Weidgesellen einen Freund hatte, den solches auch wurmte, so sagte ihm der kurz und gut: Caspar, die Geschichte mit dem Hirsch da droben ist nicht richtig, das kennen wir, den wirst du mit einer Bleikugel in Ewigkeit nicht treffen, das hat was anders auf sich. Geh einmal morgen in der Früh hinauf nach Gehlberg in die Glashütte und laß dir eine gläserne Kugel machen, das ist gleich geschehen, und die lade nur stillschweigend in die Büchse und gehe abends wieder hinauf auf den Anstand. Diesen Rat[345] befolgte der Caspar, stand droben, lauerte, da krachte es in den Büschen, und da kam der Kapitalhirsch und äsete sich, und Caspar nahm ihn fest aufs Korn und drückte los und sah die Kugel wie einen blitzenden Feuerpfeil nach dem Hirsch fahren und diesen zusammenbrechen. Freudig über seinen endlichen Glücksschuß eilte er hin; er brauchte dem Hirsch den Genickfang nicht zu geben, er war verendet – aber – es war ja gar kein Hirsch, es war Herr Johann Valentin Grahner, sein Prinzipal, der sich mit bösen Weidmannsstücklein stets in den Hirsch verwandelt hatte. Der Schreck war groß, aber geschehen war geschehen. Caspar zeigte die Sache an, Herr Grahner wurde ehrlich begraben, und der Schuldiener zu Gräfenrode schnitt sich eine frische Feder und schrieb in das Kirchenbuch: A. 1690. den 16. Sept. ist der Fürstl. Sächs. Forst-Knecht, Herr Joh. Valentin Grahner, abends nach 4 Uhr von seinem Vetter Caspar, der ein Jäger-Bursch war, im Walde am Schneekopf, in Verblendung einer Hirschgestalt, an den Schlaf durch den Kopf geschossen worden, da Knall und Fall eins gewesen ist.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 345-346.
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