59. Das versunkene Kloster

[55] Ohnweit des Fleckens Neuenkirchen im Odenwalde liegt ein stilles einsames Wiesental mit einem kleinen Weiher ohne Zufluß und ohne Abfluß. Dort hat vorzeiten ein Nonnenkloster gestanden, und darinnen war eine junge Novize, die hatte das Gelübde noch nicht abgelegt. Sie war zum Kloster gezwungen worden und liebte einen Ritter von einer der nahen Burgen, der oft zur Nachtzeit, wenn alles ruhte, heimlich in den Klostergarten kam und die Geliebte sah und sprach. Eines Abends kam ein müder greiser Pilger an die Klosterpforte und begehrte Einlaß und Obdach über Nacht, allein die Priorin und der ganze Konvent wiesen ihn ab. Nur die Novize bat, des alten Mannes Bitte doch zu gewähren, allein da sie noch nicht Nonne war, stand ihr nicht einmal zu, einen Rat zu geben, und die Pforte des Klösterleins blieb dem Pilger verschlossen. Da murmelte derselbe einen Fluch, schwang seinen Stab, schlug dreimal damit an die Pfortenmauer, und da versank das Kloster mit Kirche und Konventhaus lautlos in die Tiefe, und wo es gestanden, breitete eine stille Wasserfläche geheimnisvoll sich aus. Der Pilger aber schwand hinweg,[55] an seine Stelle trat der liebende junge Ritter – und traute gar nicht seinen Sinnen, als er nichts mehr vom Kloster sah. Laut rief er den Namen der Geliebten durch die öde Stille, die ihn umschauerte, da scholl es aus der Tiefe herauf: Morgen zu dieser Stunde kehre wieder zu dieser Stätte! Einen roten Faden, der auf dem Wasser schwimmen wird, erfasse dann!

Der Ritter tat in der folgenden Nacht, wie ihm geboten war, er faßte den Faden und zog an ihm, und da stand sein liebes Lieb vor ihm und küßte ihn und sprach zu ihm: Unschuldig muß ich mit den andern büßen, doch ist mir vergönnt, dich zu dieser Nachtstunde zu sehen, nur darf ich nicht über ihren letzten Schlag verweilen. Der rote Faden, an dem du mich emporziehst, ist mein Lebensfaden, darum halte mich nicht über die Zeit. – Lange sahen sich so die Liebenden fast in jeder Nacht, bis sie einmal allzu lange Herz am Herzen ruhten – da hatte der Ritter sein Lieb zum letzten Male in seinen Armen gehabt. Als er in folgender Nacht wiederkam und den Faden faßte, da war er nicht mehr rot – er war durchschnitten – wohl aber war rot der ganze See, vom Blute der Geliebten gefärbt. Andere sagen, der Nonnen Mißgunst habe ihn durchschnitten. Der Liebende blickte traurig in den See und versenkte sich selbst hinab in die Tiefe. In Mondnächten rauschen die versunkenen Nonnen bisweilen herauf und tanzen als Nixen mit Skapulier und Stola lustigen Ringelreigen am grünen Ufer, und Irrlichter mischen sich in ihren Reigen.

Der Sagen von Jungfrauen, die aus Weihern emporsteigen und im Arm der Liebe oder der Freude des Tanzes die bestimmte Stunde vergessen, worauf von ihrem Blute die Seen und Weiher gerötet erblickt werden, gibt es in Deutschland wohl an die tausend.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 55-56.
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