649. Der Kopf des Ratsmannes

[435] Lange sah man und sieht vielleicht noch immer am Rathaus zu Schweidnitz einen steinernen Kopf als Gedenkzeichen einer schrecklichen Strafe. Es war ein bejahrter Ratsmann allda, vom Teufel des Geizes besessen, der hatte eine Dohle, und die richtete er ab, daß sie aus seinem Fenster hinüber durch eine ausgebrochene Glasscheibe in die Ratskämmerei flog und Geld herübertrug, welches in dem wohlverwahrten Zimmer zum öftern auf dem Tische unverschlossen liegen blieb. Lange nahm man diesen Raub nicht wahr; endlich, da fort und fort fehlte, ward der Räuber entdeckt. Hierauf wurde gezeichnetes Geld hingelegt, und auch dieses holte nach und nach die Dohle. Damit ward denn der Ratsmann leichtlich des Raubes überführt und ihm, obwohl er schon bei hohen Jahren, eine entsetzliche Strafe zuerkannt. Er sollte auf den hohen Kranz des Rathausturms gebracht werden und von da heruntersteigen oder auch, so er das nicht vermöge, droben bleiben und verhungern. Mit Angst und Zittern stieg er hinauf und begann das gefährliche Heruntersteigen, das gelang aber nur eine geringe Strecke abwärts, da kam er auf ein steinernes Geländer und konnte nicht weiter, weder vor noch hinter sich, und blieb allda stehen und hatte nicht Obdach, nicht Trank noch Speise, nagte vor wütendem Hunger das eigne Fleisch sich ab und stand zehn Tage und zehn Nächte, bis der Tod sich sein erbarmte, denn die Menschen erbarmten sich seiner nicht. Darauf ward hernach sein steinern Abbild samt der Dohle auf die Stelle seines Todes gesetzt, aber ein Sturm warf dies Denkmal unerhörter Grausamkeit vom Turm, und es blieb nur der Kopf davon ganz und wurde aufbewahrt.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 435-436.
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