675. Libussas Bad

[449] Auf der alten Bergfeste Wischerad, darauf früher das Schloß Libin stand, in welchem Böhmens erstes Königspaar Hof hielt, zeigt man einen hohen und senkrechten Fels, der sich aus dem Bette des in der Tiefe vorbeirauschenden Stromes aufgipfelt. Dieser trägt die Reste eines runden Gemäuers, und es geht die Sage, daß sich von hier die hohe Herrin gar oft hinabgelassen und in der Moldau gebadet habe, auch wohl Zwiesprach gehalten mit dem Stromgeiste. Andere sagen, es habe über dem Felsen ein Turm gestanden, in welchen die Zauberin Jünglinge gelockt habe, die, von ihrer Schönheit betört, ihr blindlings folgten, dann aber nach gebüßter Lust habe sie aus ihrer Umarmung die betörten Opfer in die Umarmung des kalten Wellentodes gestoßen, auf daß ihrer keiner sein Glück verrate.

Wieder andere aber erzählen, daß nicht auf der Höhe des Wischerad das Bad der Libussa zu suchen sei, sondern nennen die südlich von der alten Herrscherburg gelegene reichhaltige Wasserquelle Gezerka das Bad Libussens, und vielleicht mit größerem Rechte. Die einzige Quelle in der Umgegend des Wischerad, sprudelte sie in einem alten Haine kristallklare Flut zutage. An ihr sollen die alten Herzoge Böhmens gewählt worden sein; Felsen umtürmten sie, und das Schweigen der Einsamkeit weht über ihrem Spiegel.

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Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 449.
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