688. Brotschuhe und Semmelschuhe

[455] Einer Mutter in Böhmen starb ihr Kind, ihr einziges und herzliebstes, und sie schmückte es im Sarg auf das allerschönste, und tat ihm das beste Kleidchen an, und setzt' ihm das feinste Kränzelein auf, und zog ihm Strümpfchen an, so weiß wie Schnee, und neue rote Schühlein – aber die Schühlein, die waren doch zu hart, die deuchten ihr nicht zart genug für des Kindes Füßchen, und sie wußte etwas Weicheres. Vom feinsten Brotmehl nahm sie, machte Teig und formte Schuhe daraus und buk sie, doch nicht zu hart, und da hatte das Tote neue braune Schuhe an statt der roten, darin ward es begraben. Aber um Mitternacht kam das bleiche Kind in seinem Kränzelein und weißen Kleidchen, und sah so jammerig aus, und hielt der Mutter das Füßchen hin, daß sie den einen Schuh ausziehen sollte und dann den andern; sie aber verstand es nicht, und das Kindlein verschwand wieder. So kam es zum zweiten- und zum drittenmal und deutete auf die Schuhe und ließ der Mutter keine Ruhe, und da verstand diese endlich, was es wollte, und ließ das Särglein wieder ausgraben, zog dem Kinde die Brotschuhe aus und die roten Schuhe an und ließ es wieder einsenken unter heißen Tränen. Und von da an hatte sie Ruhe, soviel eine Mutter Ruhe haben kann, der ihr einziges und herzliebstes Kind im Grabe liegt.

So hat sich auch etwas Wunderbares, nur in ganz anderer Weise, zugetragen mit dem Schlosse auf dem Hradekberge nicht weit vom Dorfe Oberkamenzen im Klattauer Kreise, eine Stunde von Stankau. Der Ritter, der auf dem Hradek saß, ließ eine Brücke bis Stankau bauen, damit er einen guten Kirchweg habe, sintemal die Wege dortiger gebirgigen Gegenden und durch das Radbazatal noch heute nicht die besten. Aber da man vor alters die Brücken zu pflastern pflegte, so war der neue Kirchenweg[455] nicht weich zu gehen und der stolzen und zärtlichen Tochter des Burgherrn also unliebsam, daß sie Semmeln nahm, aushöhlte und statt Schuhsocken anzog, damit zur Kirche zu gehen. Solchen Mißbrauch des lieben Brotes aber nahm der Himmel ihr noch viel übler als jener Mutter, die nur im heiligen Schmerz übergroßer Liebe ihrem toten Kindlein die Brotschuhe anzog – und als das stolze Fräulein aus dem Schlosse trat, da krachte es hinter ihr und vor ihr, und Schloß und Brücke versank, und sie selbst versank auch mit, und blieb nichts von ihr zu sehen übrig als ihre Fußtapfe in einer Brückenstufe.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 455-456.
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