73. Not Gottes

[66] Zu Rüdesheim am Rhein bewohnte das mannliche Geschlecht der Brömser von Rüdesheim ihre uralte graue Feste, deren Aufbau in die Römerzeit fällt, und weiter stromabwärts an der Waldberger Höhe ist das Kloster gelegen, welches den wunderbarlichen Namen Not Gottes trägt. Ein Brömser von Rüdesheim zog nach Palästina, tat allda viele mannliche Taten, bezwang viele Sarazenen und kämpfte mit einem Drachen, den er auch erlegte, aber bei dieser Gelegenheit oder bald darauf fiel er in die Hände der Ungläubigen, die ihm schwere Ketten zu tragen auferlegten. Da gelobte er in seinem Kerker, seine Tochter, die er als ein junges Kind verlassen, dem Himmel zu weihen, wenn sie am Leben bleibe und er in die Heimat rückkehre. Und siehe, des Ritters Ketten fielen von ihm ab, der Himmel nahm das dargebotene Opfer an, der Ritter entkam und eilte der Heimat zu. Freudvoll empfing ihn seine schön erblühte Tochter, und er offenbarte ihr sein Gelübde. Da wurde die Tochter bleich wie der Tod – sie war in Minne einem jungen Ritter zugetan, dessen Hand zugesprochen zu erhalten sie von ihrem Vater zuversichtlich gehofft. Aber es halfen nicht Flehen, nicht Tränen, der Vater glaubte dem Himmel vor allem schuldig zu sein, sein ritterliches Wort zu halten. Da enteilte die Tochter laut wehklagend der Brömserburg, erklimmte den nächsten Felsen und stürzte sich in den Strom hinab. –

Groß war des Vaters Schmerz, und da er nun sein Gelübde nicht halten konnte, und um des teuern Kindes Schatten zu söhnen, tat er ein abermaliges Gelübde, er wollte ein Kloster erbauen. Es ging aber ein Mond nach dem andern hin, und mochte wohl so kommen, daß der alte Brömser durch alten Rüdesheimer seinen Schmerz hinwegbannte und darob sein Gedächtnis etwas schwach ward – da hatte er einmal ein nächtliches Gesicht: der Drache, den er in Palästina erlegt, war wieder bei ihm, und lebendig, und fauchte ihn mit weitaufgesperrtem Rachen an und drohte ihn zu verschlingen mit Haut und Haar – da sah er die Gestalt seiner Tochter, die winkte den Drachen hinweg und blickte gar wehmutvoll auf den Brömser und verschwand.

Am Morgen aber kam des Brömsers Ackerknecht und sagte an, wie er in aller Frühe mit dem Pflug und den Stieren zu Acker gezogen sei, habe er eine klagende Stimme vernommen, die immerfort gerufen: Not Gottes! Not Gottes! Und die Stiere hätten nicht anziehen wollen, sondern immer am Boden gescharrt. Sogleich begab sich Ritter Brömser selbst hinaus auf das Ackerfeld, und da vernahm er dieselbe wehklagende Stimme: Not Gottes! Not Gottes!, die ganz in der Nähe von der Stelle drang, wo die Ochsen standen und scharrten, und zwar kam die Stimme aus einem hohlen Baume. Der Ritter rief und suchte, aber er entdeckte nichts, da ließ er den Baum spalten, und da entdeckte sich innen am Boden des hohlen Stammes eine Monstranz mit dem heiligen Leib und ein hölzernes Bild des Schmerzensmannes. Als diese Kleinode dem Baum entnommen waren, schwieg die Stimme, und die Stiere waren ruhig. Ein Jude hatte beide heiligen Stücke aus einer nahen Kirche entwendet und allda verborgen. Das erinnerte nun den Brömser stark an die Erfüllung seines Gelübdes; er gründete ein Kloster, ließ an des hohlen Baumes Stelle den Altar aufrichten und stellte das Christusbild darauf, und geschahen zu dem Kloster, das Zur Not Gottes genannt ward, und zu dem Bilde viele Wallfahrten rheinab und -auf, daß öfters[66] an einem Tage sechzehntausend andächtige Waller da waren, und das Bild tat vordem große Wunder.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 66-67.
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