730. Vom wütenden Heer

[481] Alte Leute wissen noch etwas vom wütenden Heer und vom wilden Jäger zu erzählen, wie sie über Neubrunn und seine Berge und Täler gezogen sind, am meisten aber im Herbst, wenn recht finstere und schaurige Nächte waren; aber die jungen Leute wollen nicht daran glauben, sie belachen das, was die Alten gesehen und gehört haben. Wenn das wütende Heer nun einmal vorüberzieht und die Alten sprechen: Jetzt zieht das wütende Heer!, so sprechen die Jungen: Der Wind heult und pfeift, oder es kann sein, daß Schneegänse oder Kraniche schreien. – Es zieht aber doch. Sonst, sprechen die alten Leute, zog es immer in Neubrunn durch drei Häuser; das kam daher, weil in den Häusern drei Türen gerade hintereinander waren, nämlich vorne die Haustüre, in der Mitte die Küchentüre und hintenhinaus noch eine Türe, die alle in gerader Richtung gingen, und wo sich die drei Türen bei einem Hause in gerader Richtung finden, da zieht, es mag sein, wo es nur will, das wütende Heer durch. Die Alten sagen aber auch, wenn man auf der Straße oder im Hof wäre und das wütende Heer zöge, so müßte man seinen Kopf zwischen die Speichen eines Wagenrades hineinstecken, dann könnte es einem nichts tun, und es müßte vorbeiziehen, sonst drehte es einem den Hals herum. So hört man auch in Maßfeld noch von alten Leuten, das wütende Heer sei den Zinkenstill (ein Teil des Waldes Still) herab über die Kreuzstraße bei der Reumeserbrücke, wo es überhaupt nicht geheuer sein soll, dann über die Berge nach Dreißigacker gezogen. Viele wollen es gesehen und gehört haben und bekräftigen es mit allen Eidschwüren.

Auch in Roßdorf im Rosagrunde zwischen Meiningen und Salzungen wird das nämliche erzählt; wer es höre, müsse sich schweigend zu Boden werfen, sonst werde er mit hinweggeführt über Wald und Wipfel. Und vernimmt man in diesen Gegenden stets aus der Landleute Mund nur den Ausdruck wüteninges (wütendes) Heer, nie, wie in andern deutschen Gauen, die Benennung wilder Jäger.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 481.
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