75. Die Wisperstimme

[67] Ohnweit Lorch am Rhein liegt eine Mühle im Wispertale und am Wisperbach, darinnen lebten der Müller, seine Frau und einige Kinder ganz gut und glücklich. Das Haus lag dicht am Berg, auf dem die alten Schlösser Kammerberg und Rheinberg stehen. Einer Zeit geschah es, daß die Müllerin eine Stimme hörte, als wispere ihr jemand in das Ohr, und sahe doch niemand – und dann wisperte es von neuem: Gehe hinauf auf Kammerberg, hebe den Schatz im Turm – er ist dir bestimmt – der Schlüssel steckt am schwarzen Kasten. – Die Frau, dadurch beunruhigt, erzählte ihrem Manne, was sie immer um sich flüstern und wispern hörte, der aber sagte: Passen! Träumerei! Hirngespinste – kehre dich nicht an solche Dinge – unser Schatz ist der weiße Mehlkasten! – Aber die Frau hörte die Wisperstimme fort und fort und hatte keine Ruhe mehr und hatte auch Lust zum Schatz, wenn der ihr doch einmal beschert sei – und eines Morgens, da der Müller weit oben im Tale am Wehr in der Wisper zu bauen hatte und nicht so bald nach Hause zu kommen gedachte, ging die Frau mit ihrem jüngsten Kinde, einem Säugling, in aller Stille hinauf auf den Kammerberg. Der Müller aber vollendete sein Geschäft früher und kam nach Hause, es war gerade Mittag und Essenszeit, aber die Müllerin fehlte. Wie er nun nach der Mutter fragte, so sagte ihm sein ältester[67] Knabe, daß seine Mutter mit dem Jüngsten auf dem Arm schon vor ein paar Stunden den Berg hinaufgegangen sei. Eilend rann der Müller hinauf, und als er in die Trümmer eintrat, hörte er die Stimme seines wimmernden Kindes, die aus der Öffnung eines halbverfallenen Turmgewölbes drang, stieg hinab und fand darin sein Weib leblos am Boden liegen. Eilend zieht er Frau und Kind aus dem Gemäuer und trägt und schleppt beide hinab in sein Haus. Dann ist nach langer Ohnmacht die Müllerin zu sich gekommen und hat erzählt, die Wisperstimme habe ihr Tag und Nacht keine Ruhe gelassen, sie habe hinaufgemußt, und die Stimme habe ihr auf dem Wege noch zugewispert, sie solle ganz ohne Furcht und Bangen sein, es werde ihr nichts geschehen, nur reden solle sie um keinen Preis. Sie stieg in das Turmgewölbe hinab – da stand der Kasten, da stak der Schlüssel, sie öffnete – da lag das blanke Gold – sie durfte nur nehmen – da hört sie plötzlich ihren ältern Knaben hinter sich rufen: Mutter! Mutter! und antwortet unwillig: Was gibt's?, und da tut es einen entsetzlichen Krach, als berste der Turm und stürze das Gemäuer auf sie und ihr Kind nieder, und eine Stimme ruft aus: Weh! weh! Warum redest du? Nun bin ich wieder unerlöst auf aber hundert Jahre! – und da ist es der Müllerin schwarz vor den Augen geworden. – Und als sie das alles ihrem Mann erzählt gehabt, ist sie in eine tiefe, schwere Krankheit verfallen, und nach drei Tagen ist sie eine Leiche gewesen. So hat es der Wispermüller selbst erzählt im Jahr des Herrn achtzehnhundertundvierzehn.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 67-68.
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