755. Das Lindigsfrauchen

[495] Außer der Brandenburg, auf der noch eine wandelnde Jungfrau mit Knotten umgeht, soll bei Gerstungen noch eine Burg gelegen haben, das Lindigsschloß genannt. Darauf wohnte ein wunderschönes Fräulein, dessen Schönheit sprüchwörtlich wurde im ganzen Gau, das hatte aber gar seltsamlichen Verkehr mit den Geistern der Elemente, mit den Nixen des Talflusses und mit den Kobolden und Wichtlein im Reichelsdorfer Bergwerke; dieserhalb taten die Eltern ihre Tochter in ein Kloster unter dem Arnsberge, welches der heilige Bonifazius angelegt haben sollte, aber aus diesem Kloster ließ sich das Fräulein durch einen jungen Ritter von der Brandenburg entführen, der sie zur Gemahlin nahm. Doch auch als solche konnte sie sich des Umganges mit den Nixen nicht ganz entschlagen; sie verlobte ihren einzigen Sohn einer Wasserfeine, und diese holte ihn frühzeitig in ihr nasses Reich, das heißt in der Alltagsprache: der junge Knabe ertrank in der Werra. Von einem dunkeln Sehnen ruhelos umhergetrieben, fand die junge Frau kein Glück; sie gehörte nur halb der Oberwelt an, und als ihr früh das letzte Stündlein schlug, schied sie ohne Beichte, dieweil sie nicht Lust und Neigung hatte, dem Pfaffen auf die Nase zu binden, welche wonne- und wundersamen Geheimnisse ihren tief verschlossenen Jungfrauen- und Frauenbusen bewegt und erfüllt hatten. Derohalb mußte sie auch ohne Absolution hinübergehen und kam nicht in den Himmel, sondern in das Mittelreich der umgehenden Geister, welches ihr vielleicht nicht unangenehm war. Da hat sie nun alle sieben Jahre zu erscheinen, und zwar einmal zwischen der Brandenburg und Gerstungen auf der Stätte der ehemaligen Lindigsburg und zum andernmal auf dem Wege von Gerstungen nach dem ehemaligen Kloster im Kolbacher Tale. Sie trägt einen Schlüsselbund und ein Matronenkleid und hat die unglückliche Neigung, sich den Leuten auf den Rücken zu setzen, auch soll sie, trotz ihres früheren Umganges mit ätherischen Wesen, gar nicht unbeträchtlich schwer sein. Wer aber sie geduldig hockelt bis an ihr Ziel, dem soll und wird sie mit ihrem Schlüsselbunde reich angefüllte Burg- oder Klostergewölbe erschließen, davon soll er die eine Hälfte für sich behalten, für die andere[495] Hälfte soll er ein Kirchlein in Rom bauen. Ein solcher hat sich noch nicht, wohl aber haben einige vom Aufhocken des Lindigsfräuleins den Tod gefunden, wie der Ackermann Öhme, der Fleischer Rösing und andere Biedermänner, andere sind vor der bloßen Erscheinung schon so erschrocken, daß sie in schwere Krankheit gefallen. So wird das arme Lindigsfrauchen wohl fort und fort unerlöst und im Mittelreich bleiben, denn gesetzt, es bekäme einer wirklich den Schatz, so würde er doch denken, eine Kirche in Rom bauen, das hieße Wasser in die Werra tragen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 495-496.
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