762. Der Graf von Ziegenhain

[501] Die hessische Stadt Ziegenhain hatte vorzeiten eigne Grafen, welche jedoch ausgestorben sind. Sie stammten von Ludwig dem Eisernen, Landgrafen zu Thüringen, ab. Der letzte dieser Grafen hieß Johann, zubenamt der Starke. Und in Wahrheit war er ein starker Hans, und der edle Jochem von Schapelow, der vier Eimer Weines auf einmal aus des Brandenburger Kurfürsten Keller trug, wäre vielleicht gegen diesen Ziegenhainer nicht aufgekommen. Eines schönen Tages geruhte Graf Hans von Ziegenhain zu Frankenberg, auch einem oberhessischen Städtlein, mit seiner Frau Mutter spazierenzugehen, und kamen durch eine etwas enge Gasse, mitten in selbiger stand ein Fuder Wein auf einem Wagen, das versperrte die Gasse so auf beiden Seiten, daß man ohne sich an Wand oder Wagen zu beschmutzen nicht wohl vorbei konnte, und zogen die Frau Gräfin darüber schon ein schiefes Maul. Da griff Graf Hans herzhaft an und hob und schob mit einem Ruck vorn und einem Ruck hinten das ganze Fuder samt dem Wagen zur Seite, daß die Wände der Häuser krachten und die Leute darin dachten, es wäre ein Erdbeben. Das war der gnädigen Frau Mutter wieder nicht recht, und hub an zu schelten: Ist das nun not und nötig, seine Leibeskraft so übermäßig anzustrengen und selbige also liederlich zu vergeuden? – Darauf sagte Graf Hans von Ziegenhain bescheidentlich: Die Frau Mutter ereifere sich doch ja nicht und sei nicht ungnädig! Ich habe es gut gemeint, indem derselben habe Platz machen wollen zum Vorbeigehen.[501] Da ich es nun damit nicht getroffen, so will ich meinen Fehler gleich wiedergutmachen! – sprach's und rückete alsbald, ohne erst Antwort abzuwarten, mit zwei Rucken das Fuder samt dem Wagen wieder so, wie es zuvor gestanden, und mußte nun die gestrenge Frau Landgräfin umwenden und sich eine andere Gasse zum Durchspazieren suchen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 501-502.
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