836. Der Seckendorfe Lindenkränzlein

[547] Kaiser Heinrich II. hatte einen Leibjäger, der hieß Walter, den nannten sie den schönen Jäger, und war nicht allein bei jedermänniglich und bei dem Kaiser selbst beliebt, sondern auch sonsten. Einst jagte der Kaiser in den tiefen Forsten am Roten Main und verfolgte hitzig einen Edelhirsch, da scheuchte er einen mächtigen Ur auf, der sich ihm brüllend entgegenstürzte. Schon glaubte der Kaiser sich verloren, denn er war kein Jüngling mehr, und wie weit er ein Mann war, mocht' er wohl am besten selbst wissen, und zitterte vor dem Untier um sein Leben, da warf sich Walter dem Ur entgegen und stieß ihm den Jagdspeer durchs Herz, daß er röchelnd[547] zusammenbrach; darauf erschellete er sein Horn, da fand sich das Gefolge zusammen, das den Herrn aus den Augen verloren hatte, und sah den toten Ur und den erschrockenen Kaiser und den kühnen unerschrocknen Jäger. Den hieß alsbald der Kaiser niederknieen und schlug ihn eigenhändig zum Ritter, brach von einem nahen Lindenbaum einen jungen Sproß mit acht Blättern, bog ihn in ein leichtes Kränzlein zusammen und sprach: Dies sei deines Geschlechtes Wappen fortan, ein ruhmreiches Siegeskränzlein, zum Preis der tapfern Tat, damit du deinem Kaiser und Herrn das Leben gerettet. – Darauf ritt der Herr mit allem Gefolge und dem neuen Ritter aus den Forsten nach Forchheim hinab, andern Tages aber gen Nürnberg, allwo er seinen und des Reiches Kanzellar Eberhard berief und ihn fragte, ob kein ritterlich Lehen anheimgefallen. Darauf eröffnete der Kanzellar dem kaiserlichen Herrn, daß ein Ritter des Namens Cuno, im Rangau am Flüßchen Zenn seßhaft, erbenlos abgegangen, der besaß ein Mannlehen, das hieß Seckendorf, und dieses schenkte der Kaiser dem treuen Walter. Und ist selbiger der Ahnherr und Stammvater des hernachmals reichen und weitverzweigten Geschlechts derer von Seckendorf geworden, welche sich in nicht weniger als sechs Linien teilten und dem Hochstift Eichstätt einen Bischof gaben.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 547-548.
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