923. Die Nachtfräulein

[598] Im Urschelberge haben kleine Fräulein gewohnt, die sind hinein verwunschen gewesen und sind als einmal herausgekommen zu guten Menschen. Es waren ihrer drei, und man nannte sie auch Nonnen, wobei wohl wegen der Dreizahl kaum an Nornen zu denken sein dürfte; sie kamen häufig nach Pfullingen zu einem armen Mann, brachten ihre Spindeln mit und spannen gar fleißig, doch nicht länger als elf Uhr. Sprechen taten sie gar nicht, denn das war ihnen verboten; für das Licht, das ihrethalb verbrannt wurde, zahlten sie eine kleine Gabe. Wenn man sie ja sprechen hörte, so war ihre Sprechweise kindisch. Gleich der Urschel liehen auch sie Getreide dar und jammerten, als das zurückerhaltene am Sonntage ausgedroschen war. Sie sprachen dabei von ihrem Vater, den sie kindisch Vi-Vater nannten, und als eines Abends einem dieser Fräulein von selbst der Faden riß oder, nach dortigem Ausdruck, brach, so klagte dieses: Pfitzede pfitz, der Faden is broche. – Darauf sprach die zweite: Pfitz'n wieder z'sämen, so is er wieder pfaatz (ganz). – Nun begann die dritte strafend: Hat nit der Vi-Vater g'sait, sollest nit bätze?! (schwätzen). – Darauf hat am andern Morgen vor des armen Mannes Haus ein Sack mit Frucht gestanden und oben darauf ein Geldstück, die Fräulein aber sind niemals wiedergekommen.

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Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 598.
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