965. Attila vor Augsburg

[620] Da der wilde Etzel mit seinem Hunnenheere schlimmer noch als das wilde Gejäg die Fluren des Lechgebietes überströmte, nahete er auch der alten Römerkaiserstadt Augsburg, der Augusta Vindelicorum, und wollte mit wenigen Gefährten den Lech durchreiten. Wie er nun an des Alpenstromes flaches Ufer kam und sein Roß schon den Huf erhob, in das Wasser zu treten, da rauschte das Wasser gewaltiglich, und es hob sich aus dem Grunde ein Riesenweib, grauenhaft und furchtbar anzusehen, daß das Roß entsetzt zurücksprang und der König im Sattel wankte. Und die graue Stromfei sah ihn aus hohlen Augen an mit starrem Todesblick, reckte den gespenstigen Arm lang aus gegen den König und sprach nichts als diese Worte: Retro Attila! Retro Attila! Retro Attila! – und sank wieder nieder, und über ihrem flatternden Nixenhaar schlossen sich rauschend die Gewässer. Da packten den König nie gefühlte Schauer an, und er starrte hin, und sprach kein Wort, und wandte sein Roß, und ritt nicht über den Lech.

Bald hernach ist die schreckliche Hunnenschlacht am Lech erfolgt, in welcher Sankt Ulrich, hernachmals der Schutzpatron der Stadt Augsburg, damals als heldenmütiger Bischof noch im irdischen Leben wandelnd, dem Christenheere vorkämpfte und ihm zum Siege half und deutsche Einheit die fremdländischen Barbarenhorden in ihre Heimat zurückjagte – was nicht von ihnen das Lechfeld mit seinem Blute und seinen Leichen düngte.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 620.
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