980. Das Weidwiesenweiblein

[631] Mag das Weidwiesenweiblein nun jenes verwunschene Fräulein vom Karlstein sein, wie einige sagen, oder auch nicht sein, so viel steht baumfest, daß selbiges Weiblein gehörig spukt. An der Wegscheid sitzt es und winselt zum Steinerbarmen, aber die Steine sind dort gar zu groß. Als Baumstamm saust es die steilen Bergwände prasselnd nieder und rollt hinter den Pferden des Reiters her, bis nahe an den Kaitl, dann ist's weg. Auf dem Felsen hört man es herzzerschneidend schreien und wimmern; am schlimmsten hat sich's im Jahr 1831 aufgeführt, nachdem es auch in den Jahren 1782 und 1783 gar arg gespukt und viel Redens von sich gemacht. Seine Gestalt war klein, sein Gewand schwarz, in der Hand trug es einen Tiegel und im Tiegel ein brennend Lämpchen. Ein großer Hut barg das spinnewebig runzelvolle Gesicht. Mit dem Lämpchen leuchtete es den Leuten ganz getreulich durch die dunkle Nacht, und kein Wind mochte das verlöschen, bisweilen aber hat es manche auch ganz ungetreulich irregeführt, besonders wenn sie sich im Kaitl recht bezecht hatten. Im letzterwähnten Jahre machte sich im Spätherbst der Brunnenwärter vom Nesselgraben auf und ging dem Winseln nach, das sich stark hören ließ, und verstieg sich hoch hinauf bis auf den Grat des Bergstocks, da hörte er das Gewinsel wieder tief unter sich, und unter ihm klaffte steilab die schüssige Wand. Da er mit Not wieder heruntergestiegen war, kam ein Bekannter zu ihm, das war der Kreiser von Helmbach, der stieg kecklich und mit Gefahr seines Lebens durch die Schrunden der Stimme nach und fand endlich ein uralt hockeruckeriges Weiblein, das saß in einer Felsenspalte wie eine Unke und greinte gotteserbärmlich, gab auf keine Frage eine Antwort, und wie der Bub sich zu ihm bog, krallte es ihm nach dem Gesicht. Der aber, nicht furchtsam und nicht faul, erwischt das Weiblein beim Schlafittich und zieht es nach sich bis auf die Matte, wo er vorher seine Joppen ausgezogen. Da läßt er's fahren und bückt sich und zieht die Joppe an, und wie er umschaut, ist's Weiblein weg wie weggeblasen. Da kommt ihm aber ein gewaltigs Grauen an, macht, daß er heimkommt, und wird acht Tage lang krank vor Schrecken. Nicht lange darauf ist das Weiblein auch auf den Kaitl gekommen, hat Gaben empfangen, aber nie dafür[631] gedankt. Einige sagen, daß das Weidwiesenweiblein nachderhand mit seinem Lämpchen einem Fuhrmann geleuchtet, dem in finsterer Nacht beim Kalkofen ein Rad zerbrochen, dem sei das Leuchten ein großer Trost gewesen, und habe gesagt, als er das Hülfsrad angelegt: Tausend Dank! – und da hätte das Weiblein voller Freude gesagt: Hab' genug an einem Dank! Jetzt sieht mich niemand mehr! – sei darauf hinweggeschwunden und erlöst gewesen, wie das dienstfertige Licht zwischen Neundorf und Görkwitz im Vogtland.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 631-632.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsches Sagenbuch
Gesammelte Werke. Märchenbücher / Deutsches Sagenbuch: Zwei Theile in zwei Bänden
Deutsches Sagenbuch (German Edition)