290. Reutlinger Weingärtner-Brauch.

[292] Im Jahr 1548 kehrten die Reutlinger, nachdem sie seit 1524 die lutherische Lehre nach und nach angenommen, wieder zum alten katholischen Glauben zurück, die heilige Messe wurde wieder eingeführt und katholische Priester angestellt. Als nun im Jahr darauf am Montag nach Ulricus ein Naturereigniß ihren Weinbergen großen Schaden zufügte, so behaupteten die Weingärtner: die Wiedereinführung der hl. Messe sei die Ursache dieses unglücklichen Naturereignisses, und zogen deßhalb zur Hauptkirche, zerstörten die Altäre, Bilder, Statuen etc., und bald folgten diesem Beispiel noch andere Zünfte; die katholischen Priester mußten weichen und andere, welche der neuen Lehre zugethan waren, wurden berufen. Seit dieser Zeit ist der Montag nach St. Ulricus ein Festtag der Weingärtner und findet an demselben ein[292] Festzug mit Zunftfahnen und Musik zur Kirche statt, woselbst eine Predigt gehalten wird, nachher Umzug durch die Stadt, wobei das sog. Rebenmännchen, eine kleine Figur, den hl. Urban als Schutzpatron der Weingärtner vorstellend, vorausgetragen wird, nebst zwei silbernen Weingärtner-Hapen, die sie von einem deutschen Kaiser zum Geschenk erhalten haben wollen. Vor den Häusern der geistlichen und weltlichen Obrigkeit wird Halt gemacht und denselben durch Fahnenschwenken gehuldigt; Abends ist sodann Ball.

Quelle:
Birlinger, Anton: Sitten und Gebräuche. Freiburg im Breisgau 1862, S. 292-293.
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