IV.

[291] Am andern Morgen erhielt er einen wenig willkommenen Besuch. Verschiedene Male hatte er sich verleugnen lassen – diesmal ging's nicht mehr an. Eine seiner zudringlichen »Verehrerinnen« (aus der Ferne) lief ihm die Bude ein. Fräulein Aurelie v. Fellmarch (»Baroneß« ließ sie sich betiteln, aus eigener Machtvollkommenheit), die wabernde Brunhild-Sängerin versicherte ihm in hundert Briefen und auf einem Dutzend Photographien, er sei der männlichste Mann und sie das weiblichste Weib der Literatur. Sie gab's ihm Schwarz auf Weiß, daß nur ein großer Mensch auf Erden lebe, nämlich Er. Außer diesem Ur-Normal-Universalmenschen gebe es aber noch ein Riesenwesen, nämlich die Urmenschin, das Normalweib, und zwar Sie selbst – die Einzige, die Ihn begriffe.

Leonhart erwartete sie mit gelindem Entsetzen. Erinnerte er sich doch der urkomischen Enttäuschung einer bekannten Schriftstellerin (natürlich »Baronin,« darunter thut man's heut nicht mehr und hebt am liebsten auf den Büchern den Titel ausdrücklich hervor, um die schöne Leserin zu leimen), als sie auf dem berüchtigten Schriftsteller-Strebertag Anno 1885 einige Geisteshelden leibhaftig sah! Hätte sie nicht noch die »hohe blonde vornehme Erscheinung« eines vielbegehrten Damenlieblings und einige letzte Säulen entschwundener Pracht bewundern dürfen, so wären all ihre Illusionen geknickt worden.[291]

Mit sardonischem Lächeln ließ Leonhart also seine heißhungrige Verehrerin in seinen Käfig ein. Er wußte, was er von dem genialen Brunhildenthum schmierender Löwinnen zu halten habe, da hinter patchouliduftiger Geziertheit beim Weibe stets nur die philiströse hohle Äußerlichkeit lauert.

Eine ziemlich hübsche leidlich imposante Donna trat ihm entgegen und schien auch wirklich etwas betroffen über den unerwarteten Anblick, der sich ihr bot. Doch ließ sie als gewandte Weltdame sich nichts merken, sondern bemerkte nur mit erzwungen unbefangenem Lachen: »Ich hätte Sie mir freilich etwas anders gedacht, viel wilder und viel – viel riesiger.«

»Einen, der gut..« wollte es Leonhart herausplatzen, aber er verschluckte es noch rechtzeitig und lud die Dame höflich ein, Platz zu nehmen. Diese begann nun in hochtrabendem Ton, indem sie ihn immer »Herr Wahlverwandter« anredete, ihren größenwahnsinnigen Weltbeglückungsunsinn vorzukäuen. Sie schien sich für eine Art Madame Théot, für eine Regeneratorin des Menschengeschlechts zu halten. Mit ihrem rothen Sonnenschirm (sie trug auch rothe Stöckelschuhe und rothes Hütchen) wies sie figürlich auf sich als neue Madonna, als jungfräuliche Mutter eines neuen Heilands der Idee. Leonhart glaubte ja gern an dies tiefgefühlte Bedürfniß – nur die unbefleckte Empfängniß wollte ihm nicht recht einleuchten.

Indem sie eine russische Papyros sich ungenirt ansteckte, betrachtete ihn die holde Wahlverwandte immer noch[292] mit zweifelhaften Blicken. Leonhart lächelte verstohlen und seltsame Gedanken schossen ihm durch den Kopf.

Jedes Menschen Charakter und Geist steht deutlich in seinem Gesicht geschrieben. Doch nur Wenige verstehen es zu lesen. Von Genies hat man gesagt, sie sähen unbedeutend aus. Vor dem klassischen Kopf Napoleons riefen die Pariser: »Die häßliche Kröte! Wie gelb er ist!« Aber noch mehr: Die Wenigen – bildende Künstler, Dichter und Staatsmänner –, welche diese Kunst verstehen, mißtrauen sich darin und verwirren sich bei zunehmendem Verkehr. Sei mit einem Schuft befreundet, so wirst du bald genug verlernen, die offene klare Sprache seines Gesichts zu lesen. Entscheidend ist daher nur der erste Eindruck.

Wie Wenige giebt es, die über ein »unscheinbares« Aeußere (im gewöhnlichen Weltsinn) wegsehen können!

Alles was wir von Shakespeare wissen, die Thatsache seiner Verkleinerung bei Lebzeiten und plötzlichen Vergötterung nach dem Tode, wo nur noch seine Werke sprachen, zeigt an, daß er in Allem der völlige Gegensatz eines Goethe gewesen sein muß. »Er war sanft, gutmüthig, leicht zugänglich« – diese kurze Charakteristik, die wir über ihn besitzen, malt uns z.B. nicht seine äußere Erscheinung. Und doch scheint dies so unendlich wichtig! Es mag trivial oder richtiger – cynisch klingen, aber man darf die pessimistische Behauptung wagen: die zwei im Leben erfolgreichsten großen Dichter, von denen wir wissen, Goethe und Byron, verdanken ihren äußeren Triumph bei der Mitwelt zum größten Theil ihrer persönlichen[293] Schönheit. Man möchte die Jungfrauen sehen, die begeistert zu Schaper's Denkmal in Berlin hinaufschmachten, wenn Goethe bucklich gewesen wäre! Aesop als Dichter des »Childe Harold« wäre wohl nimmer »the rage« geworden!

Das Genie soll man aus der Ferne bewundern. Rückt man den hohen Bergen zu nahe auf den Leib, so scheinen sie nur unförmliche Felsklumpen voll Schnee und Eis.

Friedrich der Große war gewiß ein Genie und ein großer Mann in jedem Zoll. Aber er war ein Purpurgeborner. Höher stehen Männer, welche »jeder Zoll ein König« wie Cromwell und Napoleon und doch die blinde Welt erst mit Gewalt zur Erkennung ihres inneren Königthums zwingen müssen. »Der kleine ungeschlachte Bierbrauer!« riefen die englischen Royalisten.

.. Die Frau scheint unfähig, abstrakt zu denken, sondern denkt immer concret. An sich ist das kein Fehler; sie ist eben Realistin. Maria Magdalena verstand den Heiland, weil sie das Persönliche desselben transcendental empfand. Dies kann beim Weibe genau so ideal und immateriell sein, wie die reflektive Begeisterung des Mannes, obschon des Mannes sinnlichere Auffassung der Liebe dies nicht zu begreifen vermag. Die Genialität der Frau steckt eben in der Liebe, als weitester Begriff gefaßt, in der warmen Selbstentäußerung des Herzens, womit sie Wunder thut. Die Frau will drum auch einen persönlichen Gott, den sie als Begriff des Guten und Schönen anbeten kann, woraus wiederum die Macht der katholischen Kirche herzuleiten.

»Ja, ich die dämonische Brunhilde-Natur, bin[294] Ihre Genossin!« rief Aurelie in einer ungesunden Aufwallung verspäteter Begeisterung. »Was soll Ihnen ein Intimissimus wie dieser Schmoller! Ich allein verstehe Sie.«

Leonhart verbeugte sich kalt:

»Einen Intimissimus, meine Gnädige, besitze ich nicht. Nach meinen Erfahrungen danke ich auch herzlich für diese edle Gottesgabe. Ich achte am höchsten meinen intimsten Freund, nämlich mich selbst. Dem traue ich, sonst Niemanden. – Sie staunen? Ja, denken Sie sich den denkbar stolzesten und wenigst eiteln Menschen – dann haben Sie mich!«

»O welch ungerechtes Mißtrauen!«

»Durchaus nicht. Mißtraue Keinem und vertraue Keinem, vor allem laß Dir nicht in die Karte gucken. – Ach, mein gnädiges Fräulein, ich sehe dort einige Streifen Rosapapier aus Ihrem Muff hervorlugen. Sollte ich mich täuschen, wenn ich einige Ihrer Gedichte darin vermuthe? O bitte, verleugnen Sie nicht den Heiland, ehe der Hahn dreimal kräht, und kommen Sie gleich zur Sache! Ich bin ganz Ohr!«

»O wie Sie alles errathen! Ich fürchte nur –«

»I, wie werden Sie fürchten! Sind Sie sonst so furchtsam? Also bitte!«

Nach einigem Geziere deklamirte also Aurelie mit Emphase:


Im heißen Biledulgerid

Einsam und stolz ein Löwe schritt.[295]

Doch fing man ihn, um ihn dem Dey zu schenken.

Der ließ ihm einen Käfig baun,

Drin waren Palmen selbst zu schaun.

Der Löwe sollte sich in Sudan denken.


Doch in des Käfigs Ecke lag

Er mürrisch wohl den ganzen Tag,

Aufsprang er nur, ging roth die Sonne unter.

Das Gitterthor er rüttelte

Und zornig brüllend schüttelte.

»Was fehlt Dir?« rief der Dey, »so sei doch munter!


Was mangelt Dir, mein schönes Thier,

In Deinem goldnen Hause hier?

Willst du vielleicht in Ambraduft Dich baden?

Soll ich die Herzen allzumal

Der Lieblingssclavinnen als Mahl

Dir zubereiten? Komm und sei geladen!«


Antwortend donnerte der Leu,

Die Nacht erzitterte aufs neu:

»Mein Haus ist Gold, doch eng ist seine Schwelle.

Die Palmen mögen prächtig sein,

Doch bilden sie nicht Nubiens Hain.

Dies Marmorbecken, ist's die Wüstenquelle?


Die Herzen Deines Harmes gieb

Nur Deinem Tiger, dem sie lieb.

Ich mag nicht Deine duftigen Gewürze.

Doch willst Du mich beschenken, Dey,

So schieße mir ins Herz Dein Blei:

Mit meinem Tode meine Haft verkürze!«
[296]

Eine Fee erblickte

Vom Regenbogen

Im Menschengewimmel

Einst eine liebliche lächelnde Maid,

Die Blumen pflückte,

Und ward ihr gewogen,

Trug zum Himmel

Den Liebling ins Reich der Seligkeit.


Schöner dort Alles,

Als auf Erden!

Die Blume glühte

Wie Demantschein!

Des Wasserfalles

Funke sprühte

Und schien zu werden

Ein Edelstein!


Und doppelt empfanden

Dort alle Sinne.

Wie Zephirfächeln

Die Stunden entschwanden.

Auf neue Wonnen sann immer die Fee,

Damit sie gewinne

Ein einziges Lächeln

Von der Erdentochter verschwiegenem Weh.


Denn ewig traurig

Sie Thränen vergoß.

Im Reich der Sphären

Ward es ihr schaurig.

Und holte Wasser die Fee aus der See,

Dann fielen Zähren

Vom Himmelsschloß

Und sie sah dort weinen die Maid in der Höh.
[297]

Schmachtend sie schaute

Zur Wolke nieder,

Die über der Erde

Düster braute.

»Was wünschest Du? Wonach sehnst Du Dich?

Zieht es Dich wieder

Zur Menschenheerde?

Sprich, o sprich!«


»Dort fallen Sterne

Und durch mein Haar

Gleich Perlenkränzen

Flöcht' ich sie gerne!«

Die Fee ihr brachte das Sternengeschmeid.

Umsonst sein Glänzen!

Und traurig war

Aufs neue die Maid.


»Fort, Gram, von der Stirne!

Was willst Du? Befiehl!«

Sie sprach: »Ich sehe

Manch schlanke Dirne

Dort unten tanzen im Frühlingshain.

Sie lachen zur Höhe

Im frohen Spiel,

Sie lachen mein.


Glücklicher freilich

Sind sie als ich.

Doch ihre Zöpfe

Sind mir nicht heilig.

Ballspielen möcht ich! Bringe mir

Der Dirnen Köpfe,

Zu trösten mich!«

Die Fee sprach: »Hier!«
[298]

Doch traurig wieder

Blickte die Maid

Mit heißen Zähren

Zur Erde nieder.

»Was dünket Dir denn noch wünschenswerth?

Ich wills gewähren,

Zu stillen Dein Leid,

Zu ersetzen die Erd'.«


»Jünglinge wandeln

So schön und lieb

Drunten heiter

Auf flinken Sandeln.

Ich bin im Himmel, doch bin ich allein.

Liebe nur gieb,

Ich will nichts weiter,

Liebe sei mein!«


Die schöne Dichterin legte die Rosapapierchen hin und blickte den Kritiker triumphirend an.

»Nun, was sagen Sie dazu?«

»Liebe sei mein!« hüstelte Leonhardt vorsichtig. »Sehr gut. Es ist ihr ewig Weh und Ach aus einem Punkte zu curiren.«

»Wie, wären Sie etwa mit der Pointe nicht einverstanden? O ich weiß, Sie Cyniker verachten die Liebe!«

»Gott soll mich bewahren! Nichts Menschliches verachte ich. Nur soll man die Dinge beim rechten Namen nennen.«

»Nun was wäre denn die Liebe nach Ihrer Auffassung, Verehrter?« Aurelie schlug kokett die Augen nieder.[299]

Leonhart nahm eine gravitätische Magistermiene an und docirte bedächtig:

»Liebe ist verkappte Sehnsucht nach einer höheren Einheit, mit welcher der einsame Einzelmensch sich in Verbindung setzen möchte. So bildet der Geschlechtstrieb die Poesie im Kampf ums Dasein. So geistig ist der Mensch, daß selbst beim Sinnenkitzel er die Leidenschaft verlangt, die ihn unbewußt veredelt. Freilich, wie rächt sich diese geistige Unzucht! Aus süßester Hoffnung sauerste Enttäuschung, wie Essig aus verdorbenem Wein. – Aber was wird sonst nicht alles über den schönen Instinkt der Fortpflanzung gefabelt! Wenn ich den Namen ›Liebe‹ höre, muß ich schon lachen. O Lüge, dein Name ist Mensch! Wer mit seiner Humanität prahlt, ist meist ein Schurke, und sicher ist grade Der ein grober Sinnenmensch, der Heine's Dictum nicht unterschreibt: ›Denn weißt du, Kind, was Liebe ist? Ein Stern in einem Haufen Mist.‹«

»Ach Sie Schrecklicher, Sie sind Pessimist wie ich!« seufzte Aurelie und schmauchte ihre Papyros mit gedankenvollem Behagen. »Ach, wir Tiefempfindenden machen stets trübe Erfahrungen, nicht wahr?« Sie kreuzte ihre wohlgenährten Beine, so daß ihre Stiefeletten bis zu den Waden sichtbar wurden. »Wie viel Schufte und Narren vergällen uns das Leben!«

»Pah!« Leonhart reichte ihr jetzt eine seiner schlechten Cigarren dar, doch war ihr das zu starker Tobak. »Dann ginge es noch an. Aber 's ist ja viel langweiliger. Ein Franzose urtheilte triftig: Die Welt bestehe nicht aus Schuften und Narren, sondern aus Leuten, die nicht Talent[300] genug haben, um das erstere, doch etwas zu viel, um das Letztere zu sein.«

»Madam Dudeffant bemerkt sehr schön: ›Ceux qu'on nomme amis sont ceux par qui on n'a pas à craindre d'être assassiné, mais qui laisseront faire l'assassin!‹« orakelte die geistreiche Dame, die an der Citatwuth litt.

Leonhart zuckte die Achseln. »Die Niederträchtigkeit der Männer und die Putz-Dummheit der Weiber zu schildern ist fast unmöglich. Physische Laster scheinen im Buch lange nicht so schlimm wie psychische Niedrigkeit. Den Begriff eines Mordes oder den Begriff einer Dirne können wir uns bei bloßer Lectüre kaum vergegenwärtigen. Aber dafür erhalten wir im Buche einen viel stärkeren Begriff von der landesüblichen Seelenverderbniß und Verlogenheit, welche wir sonst im Leben täglich gelassen hinnehmen. Uebrigens macht alles Geschriebene vor einer letzten Grenze Halt und bleibt daher nur halbwahr.«

»Sagt eure triftigen Gründe, Junker Bleichenwang!«

»Gründe wie Brombeeren!« lachte er schlagfertig. »Das Höchste und das Schrecklichste kann man nur fühlen, nicht denken, noch weniger aussprechen. Wie beschränkt ist überhaupt unser Anschauungsvermögen! Daher die Unmöglichkeit, eine ferne Zeit naturgetreu nachzuempfinden. Darin war die naive Renaissance uns voraus, die das instinktiv fühlte und sich wenig Skrupel machte, wenn sie Pharao's Tochter einfach als irgend eine Herzogin von Ferrara mit ihrer Hellebardier-Garde und die Hochzeit zu Cana als das Gastmahl irgend eines Loredano oder Contarini malte.«[301]

Da die Brunhilde spürte, daß sie auf diese Weise nie Oberwasser für ihre geplante Mentorrolle gewinnen könne, wenn man bei allgemeinen Gegenständen blieb, so lenkte sie das Gespräch auf Leonhart's krankhafte Reizbarkeit und Empfindlichkeit. Die solle er sich endlich abgewöhnen. Sie selbst lache nur über die Verleumdung der Welt. (Diese schien ihr allerdings gut anzuschlagen, wie ihr elegant geschnürtes Embompoint bewies.)

»Jeder Aerger über die Welt zeigt doch nur Kleinlichkeit.«

»Hm, seltsam genug, daß des Weltgebieters Napoleon ganzer Hofstaat vor dem Tage zitterte, wo er die englischen Blätter erhielt. Dann gerieth der Empereur in unzurechnungsfähige Wuth. Und Bismarck, der jeden schimpfenden Rotzbuben in Posemuckel gerichtlich belangt und durch seine Bismarck-Beleidigungs-Anträge seine Größe herabwürdigt? Allerdings, einen vornehmen Mann hat es gegeben, der die Leute lächelnd schimpfen ließ: Friedrich – der aber darum mit Recht auch ›der Einzige‹ heißt.«

»Jaja, der hatte eben ein reines Gewissen.«

»Oder er war ein zu großer Menschenverächter und Skeptiker, hatte auch ein kühles Naturell und die natürliche Vornehmheit eines Purpurgeborenen. Uebrigens warf auch er der Maria Theresia heftig ihre Wiener Schmähschriften vor. – Doch haben Sie Recht: Das Toben auf die Welt und das ewige Geärgertsein zeigt ein schlechtes Gewissen, mindestens einen krankhaften Gemüthszustand. Allein, wessen Gewissen ist denn rein, wessen Gemüth ist gesund? Es ist eine Schande feig zu sein. Und doch[302] habe ich Wenige getroffen, die sich nicht vor der Verleumdung schwer gefürchtet hätten, die nicht danach ängstlich umgespäht hätten, was die Leute sagen. Geradezu komisch wird dies, sobald es sich um sinnliche Ausschreitungen handelt.«

»Ja, sinnliche Ausschreitungen – da wird am meisten geheuchelt! Sagen Sie mal, finden Sie es nicht eigentlich unverschämt, daß die Welt sich über dergleichen ein Urtheil erlaubt? Mischt sich doch in gewissen Fällen sogar die hohe Obrigkeit des Gesetzes ein!«

»Ah, doch nur, wenn öffentliches Aergerniß gegeben wird und die betreffende Ausschreitung einer andern Person zum Schaden gereicht.«

»Allerdings, im Ganzen wohl. Doch giebt es ja Fälle, wo der Staat sich einmischt, ohne daß – – Sehn Sie z.B.,« sie sah ihn keck an und warf herausfordernd den Kopf in den Nacken. »Da soll es unter Frauen z.B. die Lesbische Liebe geben. Ich habe mir das erklären lassen. Hat wohl das Gesetz irgend ein Recht, sich in solche Dinge hineinzumischen?«

»O ja!« erwiderte Leonhart trocken. Er erinnerte sich, daß man von der Dame behauptete, sie habe zwei junge Mädchen auf diese Weise zu Grunde gerichtet. »Das kann auch Andere schädigen. Natürlich ändern sich die Sittengesetze. In der alten Welt war das erlaubt. Siehe Sappho!«

»Ach ja, die soll ja auf Lesbos geboren sein!« Die Augen Aureliens funkelten in einem eigenthümlichen feuchten Glanze.[303]

Leonhart hatte genug. Er erhob sich plötzlich und bedauerte unendlich, nicht länger dem Genuß ihrer Unterhaltung fröhnen zu können. Sein Arbeitstisch rufe ihn. Mit einigen oberflächlich galanten Redensarten setzte er sie an die Luft und fand ebenfalls Ausflüchte, als sie mit nochmaligem Besuche drohte. Ein Zucken um ihre sinnlichen Lippen bewies ihm, daß die Brunhilde ihn recht wohl verstand.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 291-304.
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