IV.

[34] Krastinik und Rother wurden binnen wenigen Tagen die besten Freunde. Letzterer hatte bald bemerkt, daß er es mit einem Original zu thun habe, und Ersterer studirte heimlich seinen neuen Bekannten als Modell seiner Novelle. Die reine Wahlverwandtschaft. Beiden war, als hätten sie sich lange gekannt: Sie schienen auf dem besten Weg, »Inseparables« zu werden – wie Krastinik es ausdrückte, der als Aristokrat immer noch in gräulichen Fremdwörtern sprach und das gute deutsche Wort »Unzertrennliche« für phrasenhaft und formlos gehalten haben würde.

Von der sonderbaren Affaire, die sie zusammengeführt, sprachen sie nur wenig. Rother meinte freilich, er müsse nun abreisen, und bitte den Grafen, sich zu entschließen. Allein dieser wich noch immer aus: Kommt Zeit, kommt Rath.

Also er solle ein schriftliches Zeugniß in Form eines Privatbriefes an Rother ablegen, das ihm als Waffe gegen die weibliche Tückeboldin diene?[34]

Besser wäre also wohl ein mündliches Zeugniß?

Ja, darauf wagte Rother nicht zu hoffen. – Nun, man könne ja nicht wissen, was noch geschehe. Warum solle Krastinik nicht selbst einen Abstecher nach Berlin machen?

»Eigentlich erinnert mich die ganze Geschichte an den berühmten Prozeß Gräf. Na, jene Bertha scheint denn doch ein viel schlimmeres Kaliber als unsre Kathi. Herrgott, hat Die eine Reklame aus ihrem Prozeß herausgeschlagen! Nun, Theuerster, wenn nicht Kathi, so will ihr Herr Prinzipal jedenfalls diesem Beispiel folgen. Freilich, was liegt denn da weiter vor! Gar nichts. Sie sind ja ein junger lediger Mann – ob Sie a bissel lächerlich werden, das schad't nix. Und wenn ich erst für die Wahrheit Ihrer Angaben zeuge – – nein, nein, wie komisch ist das Alles! Haben Sie auch Gedichte an Ihre Flamme gemacht à la Gräf?«

Rother erröthete. Er konnte ja nicht leugnen, daß Gräf's lyrisches Tagebuch über seine ideale Bertha auch ihn angesteckt hatte. Es schien ihm gleichsam mit dazu zu gehören. Als Krastinik, seine Verlegenheit bemerkend, in ihn drang, zog Rother sein Notizbuch und vertraute ihm drei Lieder an, die sich auf der Ueberfahrt nach London als Stoßseufzer ihm entpreßt hatten.


Nie entweicht aus meinem Auge

Deine herrliche Gestalt.

Und auch Du kannst nie entrinnen

Meiner Augen Allgewalt.
[35]

Ewig flammt in mir Dein Auge,

Und in ewigem Zauberbann

Folgt durchs Leben Dir mein Auge,

Nur das Grab Dich retten kann.


Weißt Du, was süßer als die Liebe ist,

Und süßer als des Ruhmes eitle Mache?

Es ist der Haß, der sich am Bösen mißt:

Gerechte Rache!


Du, die auf mich geschnellt der Tücke Pfeil,

Du bist verdammt und ich, Dein Teufel, lache.

Ich war Dein Engel und Dein Seelenheil.

Gerechte Rache!


Starb der Stolz tiefinnen Dir,

Mag ihn Eitelkeit ersetzen.

Starb die Liebe, Sinnengier

Mag Dir das Gefühl ergetzen.


Immer höher steige ich

Sonnempor auf Aetherschwingen.

Nur das Haupt hier neige ich,

Dir den letzten Gruß zu bringen.


Krastinik hatte aufmerksam zugehört. »Ei den Kukuk, Sie Hallodri! Sie scheinen mir ein begnadeter Lyriker. Das ist selbsterlebt, selbsterlebt, aus dem Innern gequollen!«

»Ach bitte, nicht so!« wehrte Rother bescheiden ab. »Es ist ja nicht mein Metier. Ich fühle nur ab und zu das Bedürfniß, auszusprechen, was mich quält.«[36]

»Hm, hm!« Der Graf blies nachdenklich blaue Ringel aus seiner Trabuco. »Sagen Sie mir doch ... verkehren Sie viel in Berlin in sogenannten litterarischen Kreisen?«

»O ja. Ich kenne Manchen.«

»Ei, da könnten Sie sich bei mir revanchiren.«

»Wie das?«

»Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, falls Sie ...« Der Graf stockte, setzte mehrmals an, dann ging er entschlossen in media res, indem er Rother ausführlich seine merkwürdige Lage und seine literarischen Pläne anvertraute. Dieser staunte.

Endlich fühlte der gräfliche Autor sogar das dringende Bedürfniß, dem Maler etwas von seinen Produktionen zu verlesen. Er lege (natürlich) den bekannten »hohen Werth« auf das Urtheil eines so hochgebildeten Mannes. Da habe er sich z.B. in die mystische Ehescheidungsgeschichte Lord Byrons vertieft und sei zu seltsamen Schlüssen gelangt. Ob Rother ihn ermuntere, folgenden Anfang eines projektirten Romans fortzusetzen. Auf Rothers Bitte, die wirkliches Interesse verrieth, las er nun folgende Schnitzel ab. Eins seiner gewöhnlichen Fragmente, die nie ein fertiges Ganze werden wollten.[37]


»Ist Mrs. Leigh zu Haus?« fragte ein langer gentlemanlike dreinschauender Herr, welcher hastig in den Portiko getreten war, den Haushofmeister mit vor Aufregung vibrirender Stimme.

»Ja wohl, Sir. Jedoch weiß ich nicht, ob sie so früh empfängt oder überhaupt heut' empfangen kann. Die traurige Nachricht, Sie wissen ... Alles geht drunter und drüber.« In der That zeigte der Haushalt deutliche Spuren von Unordnung, wie irgend ein untoward accident sie zu bewirken pflegt.

»Natürlich,« nickte der Besucher, indem eine heftige Bewegung seine männlichen Züge überflog. »Ganz London ist in Allarm. Man hält sich auf der Straße an. Freilich, solch ein sensationeller Aktschluß – das liebe Publikum! Aber wir, die wir so viel tiefer –« Er brach hastig ab und drängte den Portier bei Seite. »Bitte lassen Sie mich sofort ein. Es ist von höchster Wichtigkeit für Mrs. Leigh.«

»Mr. Hobhouse, wenn ich nicht irre?« fragte der zögernde Diener mit einer respektvollen Verbeugung.

»Gewiß. Melden Sie, es handle sich um den Verstorbenen – für Mrs. Leigh ist das wohl genug.«

Es schien in der That so. Athemlos eilte der Mann zurück und öffnete hastig die Thür des Parlours, wo schon an der Schwelle eine Dame mittleren Alters dem Besucher entgegenkam. Sie trug Trauerkleidung, ihre Augen schienen von anhaltendem Weinen trüb. Wortlos drückten sich Beide die Hand. – – – – – – – –

»Und so erkläre ich auf meine Ehre« Mr. Hobhouse erhob sich feierlich, sowohl zur Bekräftigung als zum Zeichen seines Aufbruches »daß es närrische alberne Dokumente sind und daß sie[38] vernichtet worden müssen. Wir haben Beide die Pflicht – Sie als nächste Verwandte des Verewigten und als das ihm theuerste Wesen, ich als sein ältester und bester Freund – das Aeußerste zu diesem Behuf zu versuchen. Ich eile unverzüglich zu Mr. Moore, um das Ding herauszulootsen. Leben Sie wohl!«

»Und – und diese Autobiographie – mein Bruder hat sie mir niemals erwähnt –«

»Das glaub ich wohl!« murmelte Hobhouse bitter in Parenthese.

»Was enthielt sie denn?! In Betreff der – der Scheidung nämlich? Oder –« Ein eigenthümlicher Ausdruck der Spannung, halb lauernd, halb ängstlich, straffte hier die müden Züge Mrs. Leigh's.

»Hm, hm –« Mr. Hobhouse dehnte seine Worte auffallend. »Erinnere mich nicht so genau. Viel Unsinn. Adieu.«

Was bedeutete der seltsame Blick, den Beide an der Thüre wechselten? Argwohn? Mißtrauten sie einander?

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In dem Drawing Room Mr. Murray's, des großen Verlegerfürsten, in Albemarlestreet, befand sich eine Gesellschaft von sechs Personen in heftigem Disput. Den Salon schmückte eine Reihe von Bildern, Porträts berühmter Schriftsteller, deren Werke bei Murray erschienen waren. Standen doch drunten im Portiko zwei bemerkenswerthe Büsten, auf welche weisend der Verleger mit gerechtem Stolz zu äußern pflegte: »Die Werke dieser beiden großen Männer sind hier veröffentlicht.« Der Eine war »the Duke«, der Herzog, der eiserne Herzog Wellington, des sen Depeschen (dispatches) vom spanischen Krieg bei Murray erschienen. Der Andere ein weit erlauchterer Geist, dessen Ruhm die Welt bedeckte und der soeben, die Lyra des Dichters mit dem Schwert des Freiheitskämpen vertauschend, den Heldentod für eine glorreiche Sache gestorben war. Aber die Skulptur schien diesem wunderbaren Antlitz nicht gerecht zu werden. Das merkte man so recht, wenn man das Meisterwerk von Philipps, ein Porträt im Rembrand'schen Stil, über dem Kamin des Salons auf die Streitenden herniederschauen sah. Unwillkürlich fuhr Jeder zurück, von einem seltsamen Schauer ergriffen, wenn er auf die harmonische und übermenschliche Schönheit jener Formen blickte, die[39] im Leben einen Genius des Jahrhunderts beherbergt und jetzt von diesen übernatürlichen Kräften verlassen. Wie der Gott des nimmer fehlenden Bogens, der Gott des Lichtes und der Poesie, die Sonne in Menschengestalt, Phöbus Apollo, blickt er wie aus überirdischen Fernen nieder. Als dieses Antlitz im Theater della Scala in Mailand vor dem vornehmkühlsten Kritiker Frankreichs (Stendhal) an einer Logenbrüstung auftauchte, vergaß er, dem Schwanengesang Desdemonas zu lauschen, und blickte auf dies Wunderbild bis zuletzt. »Ja,« gesteht er, »ich war einen Augenblick enthusiasmirt. Nie hab' ich Aehnliches geträumt. Stets wenn man das Wort ›Genie‹ nennt, taucht dieser sublime Kopf in meiner Erinnerung empor. Es war das göttliche Bewußtsein der Kraft.« Und dennoch – so lieblich dies Lächeln, das in so joviales Gelächter wie das eines fröhlichen Schulknaben umschlagen konnte, so offen und frei der stolze Blick – auf der Majestät dieser hohen Stirn thront unsterbliche Trauer. Man gedenkt an den Lucifer, den Lichtbringer der Erkenntniß, vor dem Byrons »Kain« erstarrte: »Wer naht dort? Die Gestalt gleicht der der Engel, doch wehmuthsvoller, düsterer ist der Anblick dieser Erscheinung vergeistigtester Geisteskraft. Was schaudre ich? Was fürchte ich ihn mehr als andre Geister? Doch scheint er ja viel mächtiger als sie alle, und schöner, aber doch nicht halb so schön, als er einst war und als er werden könnte.« ..... Unter den sechs Versammelten standen sich zwei Parteien gegenüber. Die bemerkenswertheste Persönlichkeit, ein kleiner Mann von sympathischem Aeußern, war kein Geringerer als Thomas Moore, der Nationaldichter Irlands. An seiner Seite stand Mr. Murray, der Chef des großen Verlagsetablissements, und sein Sohn und Thronerbe. Ihnen gegenüber Ion Cam Hobhouse, Baronet (später Lord Broughton), als Testamentsvollstrecker und intimster ältester, Freund des Todten. Neben ihm zwei Weltmänner, Colonel Doyle als Vertreter der separirten Wittwe und Mr. Wilmot Horton als Vertreter der Schwester. Der Streit nahte seinem Ende. Die Hartnäckigkeit des hochangesehenen Mannes, welcher einzig und allein die Interessen seines verewigten Freundes verfocht, unterstützt vom – ihm selbst sehr gleichgültigen – Interesse der Wittwe, trug den Sieg davon. Folgendes[40] war das Resumé, welches Mr. Hobhouse mit scharfer Bestimmtheit und Klarheit vom Stapel ließ: »Die Sache steht demnach so. Der Verstorbene hat in Venedig an Mr. Moore seine ›Autobiographie‹ geschenkt und später aus Italien noch Vervollständigungen gesendet. Dies Dokument wurde, auf besonderen Wunsch des Dichters, von seinem Verleger Mr. Murray aus Moore's Händen für 2000 Pfd. Sterl. gekauft, mit dem Recht der Veröffentlichung. In seinem letzten Lebensjahr vor seiner Abreise nach Missolunghi ward aber mein Freund von wiederholten Zweifeln heimgesucht, ob die Publikation seinem Rufe zuträglich sein würde. Ich versichere auf mein Ehrenwort und gestützt auf vorgelegte Briefe, daß mein Freund die Absicht hatte, die Dokumente zurückzukaufen. Ich protestire also mit aller Energie als Testamentsvollstrecker des Verewigten gegen eine Publikation, die seinem Ruhme höchst nachtheilig sein kann. Ich halte das betreffende Manuscript für eine seiner ganz unwürdige Leistung und Handlung. Die nächste Verwandte, die Schwester meines Freundes, die ehrenwerthe Augusta Leigh, ist festiglich derselben Ansicht. Die Wittwe vertritt aus guten Gründen denselben Standpunkt. – Zu diesem Zweck hat der nun durch uns zur Erkenntniß der Sachlage gekommene Mr. Moore die betreffenden 2000 Pfd. Sterl. hiermit zur Rückzahlung angetragen. Sie aber, Mr. Murray, sind durch Ehre und Rücksicht auf das Andenken des illüstren Todten, unseres gemeinsamen verblichenen Freundes, gezwungen, die Dokumente hier in unserer Gegenwart vor Zeugen zu verbrennen. Daran ist kein Zweifel mehr.« – –

Eine Viertelstunde später brannte der letzte Papierstreifen zu Asche. Mit einem Schauer düsterer Befriedigung glaubte der sensitive Moore auf den Zügen des Porträts ein triumphirendes Lächeln zu bemerken. – –

Beim Hinabsteigen in den Flur aber flüsterte er leichthin in Hobhouse's Ohr: »Unleugbar war die Schilderung der Scheidungsgründe in jenen Dokumenten eine partheiische und voreingenommene. Aber – obwohl augenscheinlich mit bestem Wissen des Autors geschrieben – glauben Sie, daß diese Dokumente wirklich die volle Wahrheit enthielten?«

[41] »Das weiß ich nicht,« war die kalte Antwort.

»Ich meine, halten Sie so gewöhnliche und simple Ursachen wie Charakterunterschied u.s.w. für die Haupt gründe dieser berühmten Scheidung?«

Mit gefaßter Kälte blickte der lange Britte auf den kleinen Poeten herab, als er unerschütterlich ruhig antwortete: »Ich weiß nicht – vielleicht.«

Aber Moore ließ noch nicht nach. »Sie wissen, daß ich gegen sie wahrlich keine freundlichen Gefühle hege und meinem edeln Freund stets die Heirath abrieth. Aber, Mr. Hobhouse, Ihre eigene Animosität gegen diese Frau – ist sie nicht durch Kenntniß irgend eines Faktums vermindert?«

Hobhouse zuckte die Achseln und machte eine abwehrende Bewegung: »Ich wüßte nicht.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –


»Hier schließt die Einleitung, die zugleich den Epilog bildet,« schaltete Krastinik ein. »Jetzt beginnt die eigentliche Erzählung der Ehescheidungsgeschichte, welche nun Schritt für Schritt in Byrons Vergangenheit zurückleitet.«


»Meine theure Lady Byron!

Der Apotheker und Arzt Lord Byron's nahm sich die Freiheit, den Instruktionen Ew. Ladyschaft folgend, denselben zu besuchen, mit der Intention, ihm Luftwechsel und Landaufenthalt anzurathen, jedoch den heimlichen Zweck im Auge haltend, den geistigen Gesundheitszustand des distinguirten Patienten festzustellen. Dr. Le Mann hat nun wohl selbst Ew. Ladyschaft die Mittheilung gemacht, daß er nicht den geringsten Anhalt zu der Annahme gestörter Gehirnfunk tionen gefunden hat. – Nichtsdestoweniger ersuchte mich Lady Noël, in Gemeinschaft mit Dr. Baillie, dem berühmten Mediciner, Sr. Lordschaft eine Visite zu demselben Zwecke zu widmen. Zu unserer peinlichen Ueberraschung schien der edle Lord gar bald mit einer seines Genius würdigen Einsicht[42] und Beobachtung die Absicht zu erkennen und, nachdem er uns in gemessener Weise kundgegeben, daß unsere Fragen ihm sonderbar frivol und zudringlich erschienen, bot er den sichersten Beweis seiner gesunden Geistesverfassung: Er befahl nämlich – um es deutlich zu sagen – dem Lakaien, diesen ungeladenen Besuchern über die etwas steile Treppe hinabzuleuchten. Völlig überzeugt von der Abwesenheit jeder Geistesstörung bei dem edlen Lord, erlaube ich mir die Betonung der Thatsache damit zu verbinden, daß die durchaus unentschuldbaren Rauheiten im Benehmen desselben Ew. Ladyschaft gegenüber doch durchaus nicht diejenige Grenze erreichen, wo eine Scheidung nothwendig scheint. So hoffe ich mich mit Sir Samuel Romilly, dem Sachwalter des edlen Lords, in Verbindung setzen zu dürfen, da es sich hier einfach um einen Versöhnungs-Fall handelt und wir leicht ein gütliches Uebereinkommen treffen werden. – Ew. Ladyschaft direkten Befehlen entgegensehend, bleibe ich

Ihr ganz ergebenster Diener

Dr. Lushington.«


In diesem geheimnißvollen Stil eines Wilkie Collins ging die Sache nun weiter, bis die Advokatencorrespondenz mit einem mystischen Abendbesuch Lady Byrons bei ihrem Anwalt Lushington abbrach, worauf derselbe erklärte: nach einer neuen Mittheilung, die ihm erst jetzt offenbart sei, bestehe er auf sofortiger Scheidung.

»Und der Grund?« fragte Rother hastig.

»Ja, sehen Sie!« Krastinik blinzelte pfiffig, als wäre er schon ein alterprobter Schlauberger und Sensationswütherich, der zur Abwechselung mal die Geheimnisse Miß Braddons in zwanzig Bänden sammelt. »Da steckt eben der Haken!«

Rother, dessen litterarischer Geschmack über den eines »gebüldeten« Lesers in Deutschland nicht hinausging, fand[43] diesen Anfang unendlich vielversprechend. »Wie spannend! Nein wie spannend!« rief er einmal über das andere.

»Ich bin überzeugt, Herr Graf, jeder Redakteur würde Ihnen nach einem so spannenden Anfang das Werk aufs Geradewohl bestellen.«

»Meinen Sie?« fragte Krastinik halb geschmeichelt halb zweifelnd.

»Bestimmt. Unsre Romane werden immer langweiliger, man schläft bald ein. Eugen Sue mag ja kein Ideal sein, aber man liest so etwas doch hundertmal lieber, als unsre deutschen Sachen ohne Handlung und Spannung.«

»Jaja, die Handlung ist dem Verleger die Hauptsache und dem Publikum auch,« gab Krastinik zu, »das weiß ich wohl. Was kauf' ich mir für die lange Psychologie, nicht?«

»Natürlich. Sie sind zum Romancier geboren. Sie Glücklicher! Da können Sie bald ein reicher berühmter Mann werden. Und dazu Ihr Name, Herr Graf! Wir haben schon verschiedene Grafen und Gräfinnen, die schreiben. Wenden Sie sich gleich an die große Firma Hallberger in Stuttgart. Ich kann Ihnen vielleicht eine Empfehlung geben, da ich mit ›Ueber Land und Meer‹ in geschäftlicher Verbindung stehe als Illustrator.«

»Meinen Sie also wirklich?« Der edle Xaver fiel mit Heißhunger über den ehrlich gemeinten Köder her. »Nun, da wär' es wohl das Beste, wenn ich mal selbst in Berlin Umschau hielte und mich mit Blättern und Bücherfirmen in Verbindung setzte?«[44]

Ja, das kam Rother grade gelegen. Mit glühenden Farben malte er seinem neuen Freunde die Aussichten, die ihm winkten. Auch entwarf er ein lockendes Gemälde von Berlin.

Ganz entscheiden wollte sich Krastinik noch nicht, doch neigte er sich dem Entschluß der Abreise zu, – um so mehr es ja in seiner Natur begründet lag, hastige plötzliche Entschlüsse zu treffen.

Doch bat ihn Rother, als er ihn an jenem Tage verließ, nun definitiv sich zu entscheiden, da er bestimmt übermorgen nach Berlin zurückreise. – –

Da half dem Grafen ein Wink des Schicksals aus seinem Dilemma. Denn, eben im Begriff sich für einen erneuten Besuch bei Egremonts zurechtzuputzen, erhielt er, auf elegantem Velinpapier mit Goldschrift gedruckt, die freudige Nachricht von dem geistigen Schutzpatron der »Britischen Aristokratie«, daß seine Tochter Alice sich mit Sir Thomas de Mowbray verlobt habe.

Einen Augenblick fühlte sich Krastinik wie niedergeschmettert. Das Blatt entfiel seiner Hand, er sank auf einen Stuhl und starrte lange vor sich hin. Dann erhob er sich und stürmte ins Freie.

Wie lange er so umhergewandert, planlos, irr, durch Parks und Straßen, – er wußte es nicht. Es war nach Mitternacht, als er, wie aus einem Traum erwachend, an dem Eingang einer Underground-Station stillhielt. Mechanisch löste er ein Billet, stieg die Stufen hinab, wo an jeder Seite lange Holztreppen in die ungeheure Halle hinabführten, und wartete auf seinen Zug.[45]

In dieser Nacht war er ein Andrer geworden. Der Stahl der Härte verschmolz sich dem ideellen Silber und dem materiellen Kupfer seiner Seele. Ueber die Falschheit der Welt kann man nur lachen. Ihr zürnen und sich über sie grämen, heißt ihr allzuviel Ehre erweisen.

Der letzte Nachtzug brauste mit rothfunkelndem Laternenauge heran. Die hölzernen Wände und Treppen der Underground-Station blickten so dürr trübselig drein. Droben auf der Oberwelt heulte ein eisiger Wind. Matt blinzelten die Ampeln. Nur wenige Passagiere trotteten vorüber.

Krastinik dachte an eine Nacht auf dem großen Bahnhof zu Perth. Nebel über den fernen Bergen, er ganz allein auf einer Bank. Vor ihm auf und ab spazierend nur ein amerikanischer Tourist mit Frau und Schwester, über der Schulter den buntgewürfelten Tartanplaid, der hier als Touristenmode gilt. Er hatte den Mann recht von Herzen beneidet, den Glücklichen mit zwei weiblichen Wesen an der Seite – er so ganz allein, fern der Heimath, einsam wie eine Distel auf Lammermoors Haide, auf die der Hochlandregen niederträuft.

Und dann kam ihm wieder die Erinnerung an eine Nacht in der ungarischen Pußta hinter Großwardein, wo der Eisenbahnzug plötzlich hielt. Man hatte sich verfrüht oder verspätet und ein entgegenkommender Zug wurde signalisirt. So hielt man bange zehn Minuten an derselben Stelle. Die Schaffner liefen mit Laternen draußen auf und ab, unabsehbar dehnte sich zu beiden Seiten[46] die Wüstenei und aus den Sümpfen kreischten unheimlich Wildgänse und Reiher im dunkeln Röhricht.

Am andern Tage theilte Krastinik seinem »Kamera den« mit, daß er sofort morgen Abend mit ihm nach Berlin abreisen werde und bereits gepackt und die »Bill« bei seiner Wirthin erledigt habe. Zugleich machte er sich auf, um Dorringtons diese Mittheilung zu machen. Er ließ natürlich den Grund von Rothers Kommen im Dunkeln, that, als sei dies ein alter Bekannter aus Wien her, und entwickelte die litterarischen Gründe, die ihn nach Berlin trieben.

Sogar Lady Dorrington billigte, was sie eine »zeitweilige und geschickte Entfernung« nannte. Sie äußerte sich sehr erbost über Miß Alice's schmachtende Falschheit, wie Frauen stets dasselbe Benehmen ihrer Schwestern shoking finden, das sie selber doch unter Umständen als echte Frauen in gleicher Weise betreiben würden. Weltklug rieth sie ihrem Neffen, erst aus Berlin seinen Glückwunsch darzubringen: da er schon verreist gewesen sei, ohne zu seinem Bedauern sich Egremonts empfehlen zu können, von plötzlichen wichtigen Affairen abberufen.

»Man muß seinen Rückzug decken und seine Niederlage bemänteln, mein armer Xaver.« Dieser biß sich auf die Lippen.

... Krastinik schlug Rother gegenüber jetzt einen forcirt jovialen Ton an. Er glaube, es werde sich diesem alles zum Guten wenden. Uebrigens möge er nicht alle Hoffnung auf Kathi aufgeben. Der kleine Fleck in der Vergangenheit – was schade das! Das bliebe ja unter[47] ihnen drei – in der Familie. Sie sei ja sonst offenbar ein ganz famoses Weib. Rother liebe sie doch nun mal. Also nicht nachlassen!

»I was schadet's denn! Ich beneide Sie darum. Enden Sie als Gatte einer dicken Gastwirthin, einfach lebend mit einem ruhigen Weib, die sich bescheiden von Ihnen bilden läßt. Solch ein derbes dummpfiffiges Küchenmensch paßt grade für Sie – Sie idealen Schwachmatikus, verzeihn Sie. Damit werden Sie eine gute Brut erzeugen – Darwinische Zuchtwahl.

Hören Sie in mir den kundigen Thebaner! Sie meinen, die Leute werden sich über Sie moquiren? Pah, was geht Sie die Gesellschaft an! Sie Glücklicher, Sie haben ja keine Rücksichten zu nehmen wie ich. Lägen dann die Neidhammel, die sich über Sie mokiren, nur in Ihrem Ehebett!

Ja, nur los, ich gebe Ihnen meinen Segen! Nur hüten Sie sich, daß Sie nicht wie als Freier auch als Mann den blöden Corydon spielen – solcher Sentimentalität sind die Weiber und nun gar solche Weiber bald überdrüssig.«

Aber Rother wollte jetzt von solchen Predigten nichts hören. Stumpf und begierdelos, schien er in nörgelnde Apathie versunken. Hatte er zu viel von dem ungewohnten London Fogg, dem dicken Nebel geschluckt?

»Ich will ewig reisen, und wenn ich auf Reisen bin, ärgere ich mich über die tausend Plackereien, die damit verbunden,« warf er mürrisch hin.

»Pah, Sie sind jetzt eben in krankhaft grämlichem[48] Zustand. Glück und Unglück wechseln, ebenso die Stimmungen der Seele in ewigem Ebben und Fluthen. Diese ewige Unzufriedenheit ...«

»Nein, nein, es scheint noch etwas Anderes: ich leide an einer Nervenschwäche, die sich als unbestimmte Angst äußert. Ich fürchte alles Mögliche: Schmerz, Arbeit, Ueberarbeitung. Ja, ich bin überarbeitet; ich glaube, ich muß in eine Kaltwasserheilanstalt. Ewig bohre ich mich in unliebsame Erinnerungen ein, fürchte mich – ich weiß selbst nicht wovor.«

»Ja, das scheint ernstliche Psychose,« unterbrach ihn Krastinik wohlmeinend. »Sie müssen 'was für sich thun. Spleen ist schlimmer als alle Ueberarbeitung. Die fürchtet nicht der wahre Künstler.« Seine Stimme nahm unwillkürlich einen salbungsvollen Klang an, als ob er sich bereits mit dem »wahren Künstler« identisicire. »Ja, jede Minute benutzen, das ist das einzig Wahre, und ganz allein auf sich und den lieben Gott stehn. Lassen Sie doch die Quängeleien!«

Wer von Beiden war wohl der Dümmere? Der Eine litt an unbefriedigter Ruhmsucht, der Andre an unbefriedigter Liebe. Krastinik kam sich aber gar schneidig und bedeutend vor, weil ihm Alice's sogenannte Falschheit nicht das Herz brach und ihm der Kopf von Ehrgeiz-Plänen brummte. Er erklärte jetzt, das wahre Glück in der Selbstbefriedigung vollbrachter Pflicht und Arbeit entdeckt zu haben, und citirte als Wahlspruch ein Impromptu:
[49]

Gebt mir Donner, gebt Orkane.

Nur nicht diese Windesstille

Auf dem Lebensoceane.

Denn zu kämpfen liebt der Wille.


»Jaja, es ist wunderbar wie eine erfüllte Pflicht beglückt. Willenskraft, Energie – darin liegt Alles,« hob Krastinik wieder an. »Aber wie schwer ist's, sich zu erheben! Die Indianer in Mexico bleiben in ihrem eigenen Kothe liegen, wie mir ein Reisender jüngst erzählte. Man prüft ja Aehnliches jeden Morgen im warmen Bett. Und in den alten Adam nicht zurückzufallen, wie unmöglich! Da ist nun die Gesellschaft mit ihren tausend albernen Kleinlichkeiten! Haben Sie eine ungeschickte Verbeugung gemacht, so ärgern Sie sich – nicht? Und wenn Sie alle Weisheit der Vorsehung im Leibe hätten! Statt aber schiefes Betragen zu bessern, erzielt man bei sich nur unfruchtbaren Aerger. So doktert man an Allem herum und spintisirt sich sogar vergangene Uebel schlimmer aus, als sie waren.«

Rothers Mißmuth stieg nur durch diese Vernünftelei. Wenn man Andern seine Noth klagt, beweisen sie sogleich, dies sei nur eigene Schuld gewesen.

»Eine Hölle auf Erden! Tausend Nadelstiche! Und Willenskraft – als ob's einen Willen gebe! Wir werden unsre Thorheiten nicht los – die sind uns vererbt, und angeboren. Wie wir einmal hereinfielen, werden wir's stets. Wen einmal ein Weib dupirte, der wird stets aufs neue dupirt. Ich merke das, ich fühle das.«

»Wohl wahr. Aber aus allem Mißglückten kommt[50] doch irgendwas Geglücktes. Aus der Jagd nach dem Glück hat sich wohl Mancher schon Philosophie geholt.«

So schwatzten sie immer weiter fort in die Nacht hinein. Je mehr man abführt, desto besser die Verdauung, meinen manche Leute. Je mehr man schwatzt, desto reger die geistige Verdauung. Aber sie führt gar leicht zu geistigem – Durchfall.

Die Empfindsamkeit über die Weltmisère übte auf Rother eine vergiftende Wirkung: Sie bekehrte ihn zum Materialismus. Die elenden Erbärmlichkeiten einer unidealistischen Weltanschauung wuchteten ihn völlig nieder, wie denn wahrer Idealismus erst durch innere Ueberwindung des Materialismus errungen werden muß. Die Verzweiflung des Idealismus führt zum Leben, der materialistische Pessimismus zum Tod.

Krastinik ermahnte ihn eindringlich beim Mittagessen, wo Beide wenig Appetit entwickelten, doch der Welt und ihren dummen Spottgrimassen dreist ins Auge zu sehn. Außerdem sei zehn gegen eins zu wetten, daß kein Mensch von Rother's Kathi-Tollheit etwas ahne.

»Ach, die Welt weiß Alles, selbst unsre Lügen,« seufzte Rother.

»Meinen Sie? Meinethalben. Jeder muß eben sehn, wie er's treibe. Nie ist ein Mensch durch Disput mit Gegnern überzeugt, nie durch Andrer Warnung und Geschick bekehrt. Lebensklugheit suchen ist umsonst – sie ist wie das Glück, wie das Gefühl des Behagens, einfach da.«

Beide versanken in ein düstres Sinnen.[51]

»Wie konnte ich nur –!« fuhr es Rother heraus. »Ich muß mich schämen. Unerwiderte Leidenschaft für ein üppiges Weib ist doch lächerlich.«

»Das finde ich nicht. Ob nun physisch oder psychisch, Hingebung ist immer schön. Nur egoistische Sinnlichkeit ist sündig. Ja, Du lieber Gott, die Liebe wird wie jedes Laster eine Krankheit, der man fröhnen muß.«

»Ja, es ist gleichsam ein Faulheitszustand, aus dem man sich nicht aufraffen kann. Und die Strafe der Faulheit bleibt ja nie aus, in tausend albernen Formen, als Abhängigkeit von allen Außendingen. Nur das Innere, wenn man sich dorthin zurückzieht, ist fehlerlos während die Außenwelt unaufhörlich Fehler bringt.«

»Sehr wahr. Ach, Fleiß ist die höchste Weisheit, Arzenei, Rettung, Genuß zugleich. Ja, wenn man sich einreihen könnte in die Schaar jener Künstler und Denker, die vor uns gestrebt und gewirkt!«

»Und statt dessen bohre ich mich ein auf einen Fleck in ewigem Brüten über Nichtigem! Der gesunde Mensch sollte lieber jeden Tag als eine freie Gabe betrachten, für die er danken muß. Ja, was sind wir alle für thörichte elende Zeitvergeuder!«

Wie die Feuerpfeile, welche die Hindoohs durch die Luft schießen, um den Pfad ihrer Barken zu lenken, so beleuchtet manchmal eine jäh aufzuckende Augenblickserkenntnis die Nacht unklarer Empfindung.


Am Spätnachmittag (sein Zug ging abends, Route über Vließingen) verabschiedete sich Xaver von seinem[52] väterlichen Mentor. Dieser begleitete ihn eine Strecke weit nach Haus zurück.

»Also Du reisest mit Deinem neuen Freund! Gut, gut, auf Wiedersehen hier im Herbst.« Dorrington klopfte seinem jungen Freund auf die Schulter und sah ihn mit jenem herzlichen Wohlwollen an, das den Grundzug seiner edeln Natur bildete. »Ich verliere Dich ungern lange. In meinem Alter! Wer weiß, ob man sich wiedersieht! Ich für meinen Theil gehe jetzt bald aufs Land. Ein Buchenwald mit seinen weißen Stämmen macht einen ruhigen Eindruck. Was soll mir all der Kultur-Kaleidoskop!«

»Ich schreibe Ihnen jede Woche zweimal, mein theurer väterlicher Freund. Nie werde ich Ihre Güte vergessen.«

»Ach, tutut! Larifari! Ich hab' Dich gern und will Dir wohl und Dich zu fördern macht mir Vergnügen. Das ist der reine Egoismus!«

»Sie und Egoismus!« lächelte Krastinik.

»Pah, Egoismus ist die Triebfeder all unsrer Handlungen. Man schwatzt von Philanthropie – was soll das! Das Wohlthun erregt dem Einen ein eben solches Lustgefühl, wie dem Andern die Befriedigung seiner Bosheit.«

»Ja, wenn Sie's so nehmen! Aber was bleibt denn da übrig! Wo finge dann die Tugend an! Verfeinerter Egoismus steckt natürlich in Allem. Der Märtyrer am Brandpfahl pflegt den verfeinerten Egoismus, sich über die Welt erhaben zu fühlen. Auch das ist ein Lustgefühl.«[53]

»Sehr gut.« Dorrington wiegte beistimmend sein ehrwürdiges Haupt. »Du fängst an, zur Erkenntniß zu gelangen. Fahre so fort!«

»Aber nein doch! Sie als Prediger der Selbstsucht – das widerspricht ja Ihren eignen Theorieen. Und überhaupt, mir scheint diese kalte Vernünftelei doch anfechtbar. Ist der Mensch nicht von Natur gut, selbstvergessend? Sobald man Jemand ertrinken sieht, heißt uns der Instinkt nachspringen, also etwas Unselbstisches. Erst die Berechnung und Ueberlegung läßt uns stillestehn. Wie kommt das? Des normalen Menschen Gewissen ist also von Natur edel und gut.«

»Gewissen? Was ist das? Die Philosophie hat längst festgestellt, die Psychologie längst deducirt, daß dies Gewissen uns anerzogen wird.«

»Das glaub ich nimmermehr. Das Gewissen ist der große Unbekannte, der unbekannte Gott, etwas Transcendentales. Dies ethische Prinzip ist jedem Menschen eingeboren

»Dann ist's also doch nicht transcendental. Was wird dann damit, wenn der Mensch stirbt?«

»Das können wir nicht wissen – wenigstens, sobald wir die Unsterblichkeit leugnen.«

»Das Gewissen soll also jedem Menschen eigen sein. Dann trüge es ein individuelles Gepräge. Und doch soll's ein allgemeines Prinzip sein?«

»Es ist kein individuelles Prinzip. Sondern das Gewissen, das Unbekannte, Unbewußte, ist das Prinzip der Existenz selbst. Es lebt in jedem Lebewesen als ein[54] Theil des großen ethischen Gesammtprinzips. So erkläre ich mir das.«

»Und doch tritt ja das Gewissen bei jedem Lebewesen verschieden auf, je nach Erziehung und Abstammung. Der Eine hat ein zartes, der Andre ein hartes Gewissen. Und seine Gebote – ändern sie sich nicht nach Zeit und Ort? Was bei uns als Verbrechen gilt, mag im Orient oft Sitte gewesen sein.«

»Möglich. Ich erinnere mich, daß ich als Kind weinend zu meiner Mutter kam, weil ich mit Steinen werfend unversehens einen Vorübergehenden getroffen hatte. Es war nicht Furcht vor Strafe, sondern die Reue, einen Menschen verletzt zu haben.«

»Gute Race!« erklärte Dorrington kaltblütig. »Die Knaben des Pöbels, welchen Thierquälerei einen Hochgenuß bereitet, würden in solchem Fall über Deine Dummheit lachen. Es ist alles Abstammung.

Freilich, gute Race – hm, hm! Wer weiß, ob unser Idealismus – ich war mein Lebtag ein eben solches Kind und bedaure in Dir meine eigne Schwäche – nicht eine physisch schlechte Race andeutet! Unsre Eltern haben an einer Art Psychose gelitten, an allzu zarter Feinheit des Nervensystems, waren nicht normal gesund d.h. brutal-egoistisch, als wir gezeugt und geboren wurden. Der Idealismus ist eine Krankheit; davon laß' ich mich nicht abbringen.«

»Meinethalben!« Krastinik seufzte tief auf. »Aber was hilft's, das zu wissen! Damit kommen wir keinen Schritt weiter. Wir müssen ja doch das Leben ertragen,[55] wie's einmal ist, und unsre idealen Forderungen verkneifen.«

»Ja, bis der Tod uns kneift.« Der Alte gähnte leicht und schüttelte sich, wie in einem Gefühl des Unbehagens. »Und um's erträglicher zu machen, hat man sich die Mär von der Unsterblichkeit erfunden. Das ist auch so eine Art Größenwahn des Menschen. Endlich sollte die Naturwissenschaft ihn doch belehrt haben, was für ein Wurm er ist. Wahrhaftig, man sollte denken, daß Dein ›eingeborenes Prinzip‹ beim Menschen nichts andres als der Größenwahn ist!! Erst dachte er sich Sonne, Mond und Sterne um seine winzige Erde hertanzen und schneiderte sich einen Gott zurecht, der nur für ihn und seine Bedürfnisse da war! Jetzt muß er wohl oder übel einsehn, daß sein Erdklumpen nur einen Punkt im Universum vorstellt. Darwin hat ihm endlich zu Gemüthe geführt, daß er nur ein höher entwickeltes Thier sei. Und trotz alledem hält sich der veredelte Menschenaffe immer noch für einen hochwohlgeborenen Grandseigneur, an dem Sonne, Mond und Sterne ein ganz besonderes ehrfürchtiges Wohlgefallen haben!«

»Sie übertreiben.« Der Graf lächelte etwas ironisch. »Wäre dem so, so würde der veredelte Menschenaffe wohl etwas mehr in seiner persönlichen Aufführung danach streben, vor Sonne, Mond und Sternen mit Ehren Parade zu stehn! Uebrigens – über diese Descendenztheorie läßt sich noch streiten. Längst hat mich einfache Logik gelehrt, daß der Uraffe, von dem wir abstammen[56] äußerst verschieden gewesen sein muß von dem Urahnen des eigentlichen Affengeschlechts. Warum hat nur der ›Menschenaffe‹ solche Fortentwickelungsfähigkeit gehabt und warum ist der Affe, wie wir's am Gorilla und Schimpanse heut sehn, nach Aeonen immer derselbe geblieben? Der Menschenaffe war eben ein Genie. Denn Genie scheint mir keine concrete Fähigkeit, sondern eine Art Baccillus, der im Gehirn bei der Geburt steckt und sich langsam je nach den Umständen fortbildet oder auch nicht. Der Eine wird ein großer Mann, der Andre ein Verbrecher. Wie mancher Handlungscommis könnte ein Clive, wie mancher Midshipman ein Nelson werden, wenn die Umstände ihn begünstigen! Cäsar Borgia wurde kein Cäsar: er hatte kein Glück. ›Sulla der Glückliche!‹ ›Cäsar und sein Glück!‹ O die Römer waren kluge Leute. Der Menschenaffe hatte Glück und hatte Genie. Der Ur-Gorilla aber hatte ein Durchschnittsgehirn und weder Glück noch Initiative. – Nein, nein, unsere Verwandtschaft mit dem Affengeschlecht scheint mir nur äußerlich und kann nur dem Oberflächlichen imponiren.«

»Sieh, sieh!« spottete Dorrington. »Da haben wir den menschlichen Größenwahn in optima forma. Uebrigens,« brach er ab, indem er nachdenklich vor sich hin blickte, »vielleicht verdanken wir unserm Größenwahn auch unser bischen Größe. Man muß an sich glauben. Goethe sagte sogar, daß noch kein rechter Kerl an seiner Unsterblichkeit gezweifelt habe.[57]

Ja, mit dem Größenwahn ist das ein eigen Ding. So müssen z.B. Mohamed, Christus, Buddah sich für Übermenschen ausgeben, weil die Menschen nur die Person, nie die Sache sehn und daher ohne dies das Große in ihnen nicht siegen könnte. Solch ein Größenwahn scheint also nothwendig, wird sogar zur Tugend!«

Krastinik schwieg betroffen. Diese Auffassung kam ihm sehr gelegen und leuchtete ihm ein. Doch warf er hin:

»Größenwahn scheint fast immer gepaart mit hochmüthiger Verkleinerung der Andern.«

»Nun ja, das ist eben der natürliche Egoismus, aus dem ja auch der Größenwahn hervorgeht.«

»Sei also der Größenwahn der Großen berechtigt – wie aber entschuldigt man die Einbildung der Kleinen?«

»Ach, denken wir auch hier menschlich! Nur die Lumpe sind bescheiden. Was wären wir ohne Hoffnung! Ein solcher Größenwahn ist oft Selbsterhaltungstrieb. Dagegen ist nichts zu sagen. Ein solcher Glaube tröstet einen armen Teufel im Kampf ums Dasein; der Glaube an seine innere Bedeutendheit hält ihn aufrecht.«

Beide blieben an einer Wegebiegung stehn, um sich zu trennen. Sie hatten sich schon die Hände geschüttelt und hielten sich noch immer bei der Hand.

»Schon gut, aber man macht sich doch lächerlich –«

»Weil die Eitelkeit der Andern sich über unsre Eitelkeit ärgert? Nun ja, man muß es nicht herauskommen[58] lassen. Das ist ungeschickt. Die Hochmüthigsten sind die, welche ihren Hochmuth nicht mit Worten zeigen. – Na, es soll mich wundern, wie Du in der Hauptstadt des deutschen Geistes mit all den großen Geistern auskommen wirst. Meinen Segen hast Du dazu! Lebwohl – mein Junge, lebwohl!«

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 2, Leipzig 1888, S. 34-59.
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