III.

[137] »Lieber Federigo, komm doch heut Abend in die Weinstube von Huth. Dieser kleine Mensch, der Krastinik, möchte mit uns zusammensein. Er bewundert mich sehr, sagt er. Neulich bei der Ibsenfeier lernt' ich ihn kennen. Hätt'st Du doch nur diesen Pipsen gesehn mit seinem Hofrathsgesicht und seinen Ordensketten! Das will ein Socialist sein, ein Demokrat, haha! Wenn man mich zum Wirklichen Geheimen Oberregierungsrath erheben wollte, ich stieße den Bettel mit dem Fuße fort. O dieser Pipsen, diese feiste Wildente! Ich sage Dir, wie die ›Gespenster‹ sind sie ihm nachgehuscht – K., der Knochenmann, und dann dieser B. mit der Abrahamsnase und Sch. mit der kalten Bulldoggenschnauze, diese zwei Macher in Ibsen-Schwindel –, als Er mal 'rausgehen mußte. Und dann, als er wiederkam (sie standen alle, vor der engen Pforte Spalier) – wie roch der Meister!«

Dein Schmoller.


»Unabhängige Gesinnung. Die ist erloschen. Man hat ja die Zunftkritik zu einem Sinnbild der Unanständigkeit erhoben.« Leonhart schimpfte in nervös erregten Fisteltönen auf Krastinik ein. »Halten Sie doch eine Reihe von Recensionen, lobende wie tadelnde, über irgend eilte ungewöhnliche Leistung, die sich nicht mit den üblichen Cliché-Phrasen abspeisen läßt, nebeneinander! Sie werden[138] schaudern vor dieser abgründigen Unreife. – Sie, Kellner, eine neue Flasche Mosel! Säure vertreibt Säure.«

»Ja wohl,« schrie Schmoller. »Es giebt keine Kritik mehr! Bestochenes Lob, bestochener Tadel! Wer bei jeder Recension den Grund kennt, mag vor Ekel keine mehr lesen. Mit der Diogeneslaterne muß man suchen, nur einen Mann von Ehre unter den Schriftstellern und eine Zeitung von nicht allzugroßer Schmutzigkeit zu entdecken.«

»Ganz richtig,« fiel Leonhart ein, »vor Allem fehlt überall der weite geschulte Blick, der nicht am Aeußerlichen kleben bleibt, sondern ins Innere der Dinge dringt. Das Kennzeichen jeder alexandrinischen Epoche, der seichte und nüchterne Formalismus, weht uns allerorts erkältend entgegen – selbst aus den kritischen Ergießungen der noch leidlich vornehmen und unbefangenen Geister.«

»Aber was wollen Sie denn!« warf Krastinik ein. »Ihre neue Richtung hat ja doch theoretisch auf allen Punkten gesiegt, trotz aller Bajazzosprünge der ›Alten‹! Freilich ein Beweis für die Gewalt der Wahrheit.«

»Ah pah!« rief Schmoller. »Werden diese Vers-Erbrechen, diese rhythmischen Diarrhoës nicht immer noch gepriesen und auf der litterarischen Mode-Tafel servirt? Liebt der biedere Deutsche nicht immer noch, dies schleichende Gift sentimentaler Lüsternheit den Backfischen, Höheren Töchtern und Salondämchen auf dem Weihnachtstische zu kredenzen?«

»Und doch täuscht dies nicht über die litterarische Vernichtung der ganzen älteren Generation. Schränkt[139] doch eure Polemik ein! Ignorirt sie doch! De mortius nil nisi bene.«

»Hübsch gesagt, Herr Graf.« Schmoller lachte auf. »Aber diese siegreiche Armee der ›Neuen‹ bildet doch auch nur eine buntscheckige Falstaff-Kompagnie. Was segelt heut nicht Alles unter der Flagge des ›Realismus‹ – daß Gott erbarm! Kraftmeierei, Salonsäuselei, Formdrechselei! In wie Wenigen lodert das Elementar-Dämonische, der eigentliche Grundtrieb der Poesie – von dem unser Freund Leonhart immer redet.«

»Wohl,« sagte dieser ruhig, »aber an glänzender Begabung für alles Technische, an hochgestimmter Auffassung des Schönen, an blendender Stilbehandlung scheint doch kein Mangel. Und was für männliche Charakterköpfe, die sich klar profilirt in kernhaft wuchtigem Vorfechterthum für alles Echte und Gute abzeichnen! Dafür tausche ich gern das wohlabgetönte abgerundete Künstlerthum der Alten ein!«

»Ah pah!« warf Schmoller ein. »Mit Deiner warmen Anerkennungs-Manie hast Du so Viele herangezüchtet, die gar keine Realisten sind. Z.B. Albert Wohlheim, diesen hermaphroditisch weichlichen Romantiker mit seiner krankhaft zarten Mimosenhaftigkeit der Charakterskizzirung. Mir ist diese weichliche Schmerzenswollust, diese schwüle nervöse Sinnlichkeit, diese grelle, Effekthascherei zuwider.«

»Hm, da steckt doch aber unter aller Koketterie etwas Wahres. Allerdings mehr bildkünstlerischer Formensinn, als eigentliches Dichterthum. Coloristische Makartereien.[140] Doch bleibt er trotzdem ein reifes und in sich geschlossenes Talent.«

»Aber kein ursprüngliches.«

»Offen gestanden, wenn ich nur ein Urtheil erlauben darf,« meinte Krastinik, »scheint mir Wohlheim doch in seinen Romanen nur ein Lyriker, freilich oft von magischem Stimmungsreiz. Und in seiner form-unsaubern eintönigen Weltschmerz-Lyrik ist er nachahmender Eklektiker. Ueberhaupt ein Epigone. Der gehört noch ganz zu den Alten.«

Schmoller begann jetzt furchtbar aus Hans Holbach zu schimpfen, den er einen »vertuschelnden Schönfärber«, halb sentimental halb nüchtern, nannte. Demgegenüber betonte Leonhart Dessen gefällig leichtes Erzählertalent, ungezwungene Stilflüssigkeit, goldklare Durchsichtigkeit der Darstellung, gesunde Fülle des Wirklichkeitssinns, Weltkenntniß (»ja, sehr prak tische Weltkenntniß« schaltete Schmoller ein), Thatsächlichkeit der Auffassung (»ja, kaufmännisch-kluge!«), reisen künstlerischen Geschmack, lyrische Ader, die in feiner Empfindungsmalerei schwelgt.

»Bezüglich des reisen Geschmacks,« bemerkte Krastinik, »möchte ich wohl einwenden, daß dieser durch einen organischen Fehler gehemmt wird. Die übersprudelnde Laune seiner realen Weltbetrachtung verlockt ihn, über den Nahmen des Kunstwerks wegzuspringen. Ein neckischer Kobold zupft ihm manchmal am Ohr und der Erzähler überläßt sich seinen Einfällen.«

»Darauf beruht grade Holbachs Stärke: auf dem Episodisch Anekdotenhaften. Welche Frische! Und nirgend[141] wirkt seine weltmännische Gewandtheit parfümirt. So bildet er eine Ergänzung zu Schmoller, einen Uebergang zu dem knorrigen Elementarismus der eigentlichen Realisten: so spielt er eine bedeutsame Vermittlerrolle.« –

Als Krastinik gegangen war, fing Schmoller an, diesen kräftig durchzuhecheln. »Diese Dramen-Versuche!«

»Doch nicht ohne Glück. Sein sprühend lebhaftes Naturell befähigt ihn, lebendige wirkungsvolle Scenen aneinanderzureihen. Allerdings versagt bei ihm grade das, was den wahren Dramatiker macht: Straffe Spannung des Conflikts und zielgerechter Aufbau. ›Handlung‹ macht noch kein Drama. Darüber täuscht er uns nicht weg mit seinen theatralischen Kinkerlitzchen und dem schillernden Kolorit seiner Jamben.«

»Und wie vergriff er sich in seinen Stoffen! Nirgends ein schüchterner Griff ins Realistische! Oeder Jamben-Epigone. Von eigentlicher Gestaltungskraft und Vertiefung keine Spur. Die psychologische Entwickelung wird stets als etwas schon Vollzogenes gegeben. Fadenscheinige Dürftigkeit der Fabulirung. Alle Vorgänge sprunghaft und unvermittelt. Und dann die vielen Musterweiber und biedern Menschen! Von denen steckt die Welt ja voll – man merkt's nur nicht! Man kann auch diesen ›Realisten‹ unbedenklich jeder Salondame empfehlen, um so mehr der ritterliche Sänger dem deutschen Weibe so feinfühlige Complimente sagt. Na, er muß es wissen.«

»Gewiß,« gab Leonhart sein abschließendes Urtheil ab. »Seine ideenlose Sinnlichkeit schweift nur ins Theatralische und Bildmäßige aus. Aber er entbehrt[142] nicht einer wirklichen Anschaulichkeit, einer gewissen rauhen Leidenschaftlichkeit. Seine lyrische Formbegabung verleiht auch seiner Prosa einen zarten Schmelz, wo er überall lyrische Momente verschwenderisch ausstreut und einstreut –«

»Ja, um mit solchen Ueberflüssigkeiten die allzu langsam rollenden Räder zu schmieren und die Lücken zu stopfen. Dieses lose Bündel mühsam zusammengeschweißter Genrebilder! Und wird mal ein Ansatz zu aufbauender Komposition sichtbar, so erlahmt er immer wieder.«

»Mag sein. Doch neben pikanter Junkerlichkeit begegnen wir hier stets einer unverwüstlichen Natürlichkeit des Ausdrucks. Auch strotzt er voll scharfer Beobachtung und weltmännischer Erfahrung. Und er schreibt meisterlich.«

»Ja, darauf legt unsre kümmerliche Zeit ja das Hauptgewicht,« brummte Schmoller. »Ach, das alles sind nur lodderige liebenswürdige Episoden-Dichter. Sie plaudern mit anmuthig ungezwungenem Weltton – das ist alles.«

»Ja, aber er kann sehr viel.«

»Möglich, aber er will Null. Das sind Alles nur Kunsthandwerker! Ich sage Dir, Du sollst nicht ewig Leute als Realisten preisen, die keine sind!«

»Ach, nicht davon droht uns Gefahr, sondern ganz wo anders her. Unsere Schulmeister-Aesthetik, die ja stets mit dem Strome schwimmt, fängt an, sich des siegreichen Realismus zu bemächtigen. Nun geht das automatische Einschachteln los, ob dies echter oder das[143] unechter Realismus sei. Es tauchen schon weise Großväter auf, die aus der Weisheit güldner Wolke erhabene Sprüche tönen lassen, um das trockene Studium der Naturwissenschaften als obligatorisch zu empfehlen. Als ob man vom Componisten verlangen möchte, er müsse den Vorlesungen voll Helmholtz über die Schallwellen beiwohnen! Eine neue Abart der Philister-Pedanterie! Nächstens wird noch ein realistischer Aesthetiker die Höhere Mathematik für Berechnung der Zufallsmöglichkeiten den Romanschreibern empfehlen! Daß der Dichter die Bildung seiner Zeit umfassen solle, bestreite ich nicht. Doch dürfte Kenntniß der historischen und litterarhistorischen Entwickelung denn doch dem naturwissenschaftlichen Studium weit vorzuziehen sein. Wer alle Wunder der Physik und Chemie beherrscht, aber von Weltgeschichte und Weltlitteratur nur oberflächliche Kunde erhielt, bleibt ewig ein ungebildeter Mensch – nicht aber umgekehrt.«

»Sehr wahr,« brummte Schmoller mit vieler Befriedigung. »Weiß ich etwa 'was? Wie? Gar nichts, he?« Leonhart nickte zustimmend, indem er ein Lächeln unterdrückte. »Und doch bin ich Karl Schmoller. Das Leben muß man kennen, siehst de woll!«

»Natürlich. Die Wissenschaftlichkeit ist der Tod der Poesie und lockt keinen Hund vom Ofen. Solche zusammenspintisirten greisenhaften Experimentalromane wie Goethe's ›Wahlverwandtschaften‹ fußen auf wissenschaftlicher Grundlage – und mißlingen doch. Hingegen, als Goethe sich die Werther-Krankheit vom Leibe schrieb, da zeigte er uns den richtigen Weg. Man muß seine Dichtung[144] gleichsam mit erleben; dankt erst bildet sich etwas Lebenswahres.«

»Ja wohl,« fiel Schmoller ein. »Darum verweben alle großen Schriftsteller ihre Erlebnisse auf oft kaum merkliche Weise in ihre Erfindungen. So z.B. habe ich ...«

»Allerdings,« unterbrach ihn Leonhart, »ist der hohe Lohn der absoluten Lebenswahrheit nur um den Preis einer schonungslos in den eignen Eingeweiden wühlenden Arbeit zu erringen. Aus diesem Grunde sind all die guten Rathschläge und Empfehlungen naturwissenschaftlicher Studien und gelehrter Experimentalmethode in hohem Grade unwissenschaftlich d.h. unwissend über den psychologischen Prozeß der wahren Dichtung, dieses nur dem Dichterdenker erschlossenen Räthsels. – Das echte Poeten-Ingenium beobachtet, fühlt und denkt einfach schärfer, tiefer und schneller, als die Durchschnittsmenschen, seien diese nun wissenschaftlich oder unwissenschaftlich. Es besitzt tausend unentdeckbare Saugfäden, mit denen es gleichsam naiv-unbewußt und instinktiv alle Bildungselemente in sich saugt. Daher die vielen Momentphotographieen naturalistischer Beobachtung in den Werken großer Dichter, die z.B. den alten Homer zum echten Naturalisten stempeln.«

»Jaja, Du docirst heut wieder einen schönen Stiebel zusammen,« gähnte Schmoller, der von der ganzen Auseinandersetzung, bei seiner verblüffenden Stumpfheit allem Theoretischen und Abstrakten gegenüber, kein Wort verstanden hatte. »Kurzum, ein wahrer Dichter ist ein großer Realist.«[145]

»Aber nicht jeder große Realist ist ein Dichter,« wendete Leonhart ein. »Ein wahrer Dichter ist auch ein Realist, weil er ein Dichter ist. Aber Realismus ohne Poesie ist gar keine Poesie. Realismus ist kein Zauberwort, das feuilletonistisch-schriftstellerische Anlagen zu dichterischer Anschauung ummodelt. Man ist entweder ein Dichter oder man ist es nicht. Ob man die Jungfrau von Orleans oder eine Demimondaine schildert, ist dabei gleichgültig. Beides soll man lebenswahr schildern – nicht wie Schiller's Jungfrau oder Dumas' Kameliendame. Aber das ›Realistische‹ kommt doch immer erst in zweiter Linie – die Hauptsache ist, daß etwas bedeutend sei.« Er machte sich auf den Heimweg.

Irgend Etwas in diesen Bemerkungen mußte wohl auf Schmoller als unbewußt anzüglich gewirkt haben. Wenigstens äußerte er nachher zu Ambrosius Sagusch, den er gleich darauf im »Café Keck« traf, (wo dieser Sokrates eine Phryne väterlich liebkoste und zur Xanthippe umwandelte, da er sie hinterher nicht »frei hielt«) –:

»Ein ganz begabter kleiner Mensch, dieser Leonhart. Wenigstens als Lyriker ist er ganz bedeutend. Aber ›sociale Romane‹ will der schreiben? Lächerlich! Hat der je ein Berlinisches Lokal-Sittenbild geschrieben, wie ich schon mit zwanzig Jahren? Und das ist doch das einzig Wahre!« Als der Andere nicht recht mit der Sprache herauswollte, fuhr er verdrossen fort:

»Dieser Mensch! War der Stammgast je in einer Droschkenkutscher-Destille wie das Kind im Hause? Das ist mein größter Stolz. Noch nicht ins Leben hineingespuckt[146] hat er! Immer die Taschen voll Geld gehabt! Nein, der vermag nicht das Leben zu erfassen. Das ist meine ehrliche Meinung, an der ich erst wankelmüthig werden werde« (er meinte, in grammatisches Deutsch übersetzt: »die erst wankend wird«), »an dem Tage, wo er gehungert haben wird wie ich.«

»So, hast Du schon mal gehungert?« fragte Sagusch trocken. »Beiläufig leih mir doch mal fünf Mark bis morgen!« (Unter morgen verstand der zukunftschauende Prophet des Jüngsten Deutschland natürlich das Jüngste Gericht.)

»Bedaure, bin selbst nicht bei Kasse!« lachte Schmoller auf und verzog sich eilig, indem er den Hohngesang anstimmte:


»Nenne mich Du! Nenne mich Du!«


... »Ein großartiger Kerl, der Schmoller,« dachte Leonhart. »Und wenn er auch ein Schweinehund sein mag, er hat sicher auch gute Seiten. Allerdings bleibt er ewig in seiner beschränkten Sphäre kleben. Ueber all solchen Detailarbeiten thront aber die kosmische Individualität in ihrer umfassenden Bedeutung, in der wie in einem Brennspiegel alle Strahlen des Realismus sich einen. Hocherhaben über neidisches Gekläff wie über die Blindheit unreifer Philister, schreitet die große Dichtkunst der Zukunft, des idealen Realismus und realen Idealismus, ihre dornige nebelverhüllte Bahn hinauf zum Gipfel des Berges. Haltet den Mund und arbeitet! Das möge sich Jeder zurufen der sich berufen fühlt zum großen Werk der Erneuerung.«[147]

Er dachte dies mehr unbewußt. Ader hätte ihn Jemand gefragt, wen er sich unter der kosmischen Individualität vorstelle, so wäre er entweder die Antwort schuldig geblieben oder hätte sein Erhabenheitsgefühl zu der unerschrockenen Offenheit gesteigert: Mich selbst.

Allein, ein dunkles Gefühl seines Größenwahns drängte sich ihm dennoch auf und er erwog mit ruhigem Stolz, ob er an wirklicher Größe oder an Größenwahn kranke, ob er seine unleugbar hohe Bedeutung am Ende nicht doch überschätze. Konnte er nicht bloß der Marlowe eines Shakespeare sein? Wozu theoretisirte er noch so viel? Das sollte das Genie doch nicht thun. Vielleicht weilte der wahre große Dichter der Zeit noch unbekannt in unsrer Mitte, und wandelte schweigend in den Werkstätten umher, auf daß des Dichters Wort erfüllet werde:


»Der König Karl am Steuer saß, der hat kein Wort gesprochen,

Er lenkt das Schiff mit festem Maß, bis sich der Sturm gebrochen


Allein in solchen Erwägungen tröstete den jungen Dichter immer wieder sein Schicksalsglaube, der durch Geschichtsbetrachtung und eigene Lebensschicksale in ihm eingewurzelt und gereift war. Was sein soll, soll sein; man wird ja sehn. Wer groß ist, wird nicht klein, ob auch alle Welt ihn klein machen möchte. Wer klein ist, wird nicht groß, ob er auch aller Welt seine Größe aufschwätzt. Nicht der Erfolg, sondern das Urtheil der Nachwelt entscheidet. Außerdem – im Grunde wird doch Jedem, was ihm gebührt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Man[148] denkt wohl: Wieviel Cromwells als Landbebauer, wieviel Shakespeares als Dorffiedler, wieviel Moltkes als zur Disposition gestellte Majore, wieviel Rafaels als Zeichenlehrer enden – aber hat man je dafür einen strikten Beweis erbracht? Wie ließe sich das beweisen? – Die Wahrscheinlichkeitsberechnung ergiebt freilich, daß meist nur das Mittelmäßige und das sehr Gute in der Welt leicht Erfolg haben kann, das Gute viel schwerer. Jedoch, auch dagegen ließe sich viel einwenden. – Ist ein sogenanntes »Genie« liederlich und faul und kommt daher nicht zur Entwickelung, so ist es auch kein wahres Genie. Ein faules Genie ist in sich ein Unding. Und die äußeren Hindernisse? So manche Erfahrung lehrt (man sah es noch zuletzt an Bismarck und an Richard Wagner), daß eine höhere Führung, woher auch immer sie stamme, die Erkorenen aus Drangsal, Noth und Niedrigkeit siegreich zu den Höhen der Macht und des Ruhmes emporführt. Es giebt ein Schicksal. Ihm soll man sich demüthig anvertrauen, es wirds wohl machen. »Betet und schüttet frisch Pulver auf die Pfanne,« »dem Tapfern hilft das Glück« – diese Sätze sind nicht nüchtern und skeptisch aufzufassen. Die »Virtus« (nannten die Alten doch »Tugend« und »Muth« so richtig mit dem gleichen Namen) und die »Fortuna« bedingen einander innerlich. Gott läßt den Braven nicht sinken. Schlummert unter den Lumpen eines Bettlers, eines Derwisch, ein geborenes Herrschergenie – so wird Allah dies zum Padischah machen, auf die ein oder die andere Art. Jeder erreicht seine volle Bestimmung, ob so oder[149] so. Wozu also der eitle Größenwahn! Größe ist Größe und bedarf keines anderen Freundes und keiner Ermunterung – denn das Schicksal steht ihm zur Seite.


»Ich habe so viel von Ihnen gehört und will mich min an die Lectüre Ihrer Werke machen, damit ich ein ehrliches unabhängiges Urtheil gewinne!« hob Krastinik plötzlich an.

Beide kamen an einem Tingeltangel-Keller vorbei. Aus der Tiefe tönte der Refrain des schönen Blödsinn-Hymnus: »Constantin – Constantin – Constantino – pel« und das nicht minder herrliche Lied:


»Mach' mir nur keine Wippchen vor, Wippchen vor –!«


Leonhart lachte leise. Es war ein stoßweises häßliches »Hähä!«, in dem man den ganzen Stachel einer verbitterten Seele spürte, die einst unter den Stacheln der Welt geblutet. Oft lag in seinen leichten höflichen Worten ein ätzender Hohn, der gleichsam spielend traf.

»Mach' mir nur keine Wippchen vor!« summte er halblaut vor sich hin.

Krastinik verstand. »Sie mißtrauischer Mensch Sie! Ich wiederhole Ihnen, ich will mir doch selbst ein Urtheil bilden. Welches Ihrer Werke empfehlen. Sie mir zur ersten Lectüre?«

»Alle!« erwiderte Jener lakonisch.

»Alle? Das ist etwas viel.«

»Bedaure. Meine Werke bilden in sich ein System,[150] ein zusammenhängendes Gebäude. Lassen Sie eins aus, haben Sie nicht mehr den ganzen Dichter.«

Krastinik schwieg einen Augenblick. »Bien, werde Ihren Rath befolgen. – Nun sagen Sie mir aber mal offen: Was halten Sie von der litterarischen Gesellschaft Berlins?«

Leonhart antwortete nicht. »Ah, hier sind wir vor Ihrem Logis, Herr Graf,« sagte er ausweichend. »Gute Nacht.«

»Oho, so entkommen Sie mir nicht. Was halten Sie z.B. von Dr. Adolf Kratzenthal?«

»Hm!«

»Und von Herrn voll Schnapphahnitzkoi und von Doctor Gotthold Ephraim Wurmb?«

»Sie meinen kurzum, von der ganzen Blüthe unsrer Journalistik und Geschäftsfabrikantenlitteratur?« Leonhart drückte dem Grafen die Hand zum Abschied und entfernte sich eilig mit großen Schritten, nachdem er das eine bedeutungsvolle Wörtchen geflüstert: »Dreck


»Hochverehrter Meister,


Gestatten Sie, daß ich Sie so anrede! Ich bin noch ganz außer mir! Gestern Abend habe ich die Lectüre Ihrer sämmtlichen Werke geschlossen und bin noch weg und paff davon! Ich wollte Ihnen nicht eher schreiben, bis ich Alles verdaut hatte. Ja, alles! Sofort, am andern Morgen nach unserm Gespräch, machte ich mich zum nächsten Sortimenter auf (nicht zur Leihbibliothek)[151] und kaufte (– wird man mir als dem letzten bücherkaufenden Deutschen nicht eine Bildsäule setzen? –) Ihre Bücher en bloc. Ueber Schwächen und Mängel im Einzelnen läßt sich ja rechten. Der Gesammteindruck aber ist der: An Größe der Anschauung, an allgemeiner Productionskraft stehn Sie ohne Gleichen unter den Lebenden da. Sollte ich denn wirklich der Erste sein, der das entdeckt und der das ausspricht? Sollte es möglich sein, daß alle Welt mit Blindheit geschlagen ist, das nicht zu sehen, was doch so klar vor Augen liegt? Wahrlich, ich werde irre an der Welt oder an mir selbst! Helfen Sie mir, dies Dilemma enträthseln! Bis dahin aber seien Sie versichert der steten Bewunderung Ihres (will's Gott) getreuen Schildknappen und Wagenlenkers.«

Xaver Graf Krastinik.


Mein lieber Graf Krastinik,


Ihr Schreiben hat mich gerührt und bin ich Ihnen dafür zu Dank verpflichtet. Allein Ihre schmeichelhafte Verwunderung reizte mich – verzeihen Sie meine Offenheit – zu stiller Heiterkeit. Nehmen Sie es als etwas Ehrendes, wenn ich Ihnen zurufe: Ach, sind Sie noch grün!

Die sogenannten Schriftsteller, sowohl die ungeheure Menge der Mittelmäßigen als auch die wenigen Bedeutenden, zerfallen moralisch in drei Kategorieen (Ausnahmen bestätigen nur die Regel): die Schurken, die Lumpe und die Dummköpfe. Die Schurken verfolgen mit allen Mitteln lediglich ihre Privat-Interessen, die[152] Lumpe haben gar keine Meinung und die Dummköpfe eine Meinung, welche meist noch schlimmer ist als gar keine. Glauben Sie etwa, daß die Burschen, welche die »Oeffentliche Meinung« (lucus a non lucendo) vertreten, es auch nur der Mühe werth finden, die Autoren zu lesen, über die sie ein Verdikt abgeben? Hören Sie einen solchen Nullmenschen über mich faseln, so fordern Sie ihm sein Ehrenwort ab, ob er wirklich auch nur eins meiner Hauptwerke gelesen habe! Doch, pah! Das nützt nichts: Wo keine Ehre ist, wirkt auch kein Ehrenwort. – Lassen Sie's gut sein! Eines Tages muß die Wahrheit durchdringen; so groß ist ihre innere Unwiderstehlichkeit.

Noch eins. Sie werden wahrscheinlich gehört haben, ich hätte die Schwäche, Collegen zu »entdecken«, großzupreisen und dann ebenso schnell fallen zu lassen. Lassen Sie sich nichts vorreden! Tauschender Schein, leerer Schwindel – nichts weiter! Ganz grundsatzgetreu bleiben bekanntlich nur die Bösewichter und seine Ansicht corrigiren ist kein Fehler. Aber nicht einmal das kann man mir bei genauer Prüfung vorwerfen. Ich habe stets dasselbe über Andere gedacht und geschrieben von anfang bis heute. Zwar muß man abrechnen, daß ich einerseits gutmüthig und besonders dem Mitleid für »Verkannte« zugänglich, andrerseits nervös und verbittert bin – daß also der schändliche Undank, den ich stets von »Collegen« zu genießen das Glück hatte, mich irritirt. Das würde aber jeden Andern vielleicht noch mehr empören und ganz bestimmt dessen Urtheil beeinflussen,[153] während bei mir die Objectivität stets die gleiche bleibt. Man wird Ihnen sagen – die nicht gelobten Collegen nämlich, die mein Lob über Andere ärgert –, daß ich später scharfe Dinge geäußert hätte über Leute, die ich früher zuerst begrüßte. Spezielle Widersprüche wird man zwar vergebens suchen, da mein Urtheil über das Einzelne stets feststand, einmal für immer.

Aber der Uebergang von wärmster Empfehlung der Begabung bis zu kühler Betonung der Grenzen dieser Begabung war immer der gleiche. Kaum hatte ich durch rücksichtsloses selbstaufopferndes Eintreten für hülflose Anfänger oder Verkannte denselben Bahn gebrochen, als auch die kritiklose Welt diese an meinen Rockschößen baumelnden Anhängsel für Gleichberechtigte neben mir selber hielt und mich mit diesen, von mir über Nacht geschaffenen neuen »Namen« in einen Topf warf. Ich müßte kein Mensch sein, wenn mich das nicht peinlich berühren sollte! Allein, das Peinliche liegt hier keineswegs in einem egoistischen Grunde: Wären diese Neuen, diese »Dichter von Leonhart's Gnaden«, wirklich auch nur entfernt gleichberechtigt, so würde ich der Erste sein, der dies anerkennte, so wie ich vor einem Größeren als ich mich neidlos beugen würde. Daran zu zweifeln, scheint für jeden Psychologen wohl ausgeschlossen. Die Logik spricht dafür; denn wer sich selbstlos bemüht, Andere, die ihm in keiner Weise nützen können, zu fördern und auf seine Stufe zu heben, der würde auch das Höhere mit gleicher Neidlosigkeit und Wärme anerkennen.

Aber das oben berührte Peinliche würde allein mein[154] Wohlwollen noch nicht erschüttern. Da kommt aber ein andrer Umstand hinzu, welcher freilich in der Niedrigkeit der Menschennatur begründet. Die von mir Aufgepäppelten nämlich fühlen mit Unwillen die Last der Dankbarkeit. Sie fühlen ferner, daß das Vermengen ihres »Entdeckern« mit ihnen selbst, wie es der thörichten Welt beliebt, von diesem selbst nicht gebilligt wird. Den nothwendigen Abstand von ihm, in dem er sie, mehr unbewußt als absichtlich, seinerseits zu halten weiß, empfinden sie wiederum als eine Kränkung. Seiner Superiorität, welche sie früher, als sie sich schmeichelnd an ihn wandten, schon dem äußeren litterarischen Verhältniß nach als selbstverständlich anerkennen mußten, hat er sich durch seine Uneigennützigkeit ja nun selbst entäußert. Und die Welt, die es natürlich buchstäblich nimmt, wenn der Warmblütige irgend einen beliebigen Verkannten mit dem schirmenden Schilde »Mein Freund, der hochbegabte X.« deckt, nennt ja selbst »Leonhart, X., Y., Z. und all die Andern« ruhig in einem Athem – die Welt muß es ja am besten beurtheilen können!

Von jetztab beschuldigen sie ihn in den Krämpfen ihres heimlichen Neides, den sie nicht Wort haben möchten, des Größenwahns, weil er nicht dulden will (so sehr er sonst auch für sie ins Zeug geht), daß sie ihn (dem sie litterarisch alles verdanken, ja der oft gleichsam ihr litterarischer Erzeuger gewesen ist) mit frecher Familiarität unter den Arm nehmen. – Nun kommt das Entscheidende! Ihr »Gönner« hat tausend Feinde. Diese sagen sich, daß es das sicherste Mittel sei, ihn zu isoliren, wenn[155] sie plötzlich seine früher überall todtgeschwiegenen oder gar beschimpften Schützlinge zu loben anfangen – auf seine Kosten natürlich. Und siehe, sie haben sich nicht getäuscht. Unter heuchlerischem Hin- und Herwenden, knüpfen die werthen Genossen und Freunde hinter dem Rücken ihres Häuptlings mit dessen Todfeinden intime Beziehungen an. Bald naht die Stunde, wo sie mit manchem Räuspern ihrer verlogenen und undankbaren Gemüther zu verstehen geben, die Genossenschaft ihres Ruhm-Erzeugers, ohne den doch ihre litterarische Existenz für die Welt todtgeboren geblieben wäre, compromittire sie. Was sie voll ihm und seiner Macht genießen konnten, haben sie genossen – jetzt können sie ja ihren Meister »dreimal verrathen« und mit fliegenden Fahnen zum Feinde übergehn, wo man sie mit heuchelnder Freundlichkeit empfängt.

Da erhebt sich denn plötzlich der beleidigte Löwe in seinem Grimm und ohrfeigt sie mit seiner Tatze, indem er ihnen überall den Flitter abreißt und ihre wahren Blößen zeigt. Darob großes Hallo! »Er ist kleinlich, neidisch, kann nicht vertragen, daß auch Andere gelobt werden; er ahnt eifersüchtig, daß sie ihm über den Kopf wachsen möchten!« Ihm freilich schreiben sie das nicht! Da lassen sie vielmehr die Züchtigung demüthig über sich ergehen, reden von ihrem »steten Dank trotzdem« oder gar von ihrer »trotzdem unabänderlichen Verehrung«, denn in dieser Maßregelung selbst haben sie gespürt, daß der Löwe doch noch lebt und daß er stärker ist, als alle seine Feinde miteinander. »Königsmacher Warwick«[156] nennt man ihn im Scherz, der, wen er hebt, auch stürzen kann. Doch der Spitzname trifft nicht. Denn zu »Königen« kann er Niemanden machen, weil er selbst der König ist. Wohl aber kann er, statt des falschen Geistesadels, eine echte Aristokratie des Litteratur-Geistes gründen und darum hat er sie zu seinen Pairs ernannt. Ein König hat aber das Recht, seine Pairs ihrer Stellung zu entkleiden, wenn sie meutern – ihres wirklichen Adels nicht. Denn wer zum Ritter vom Geist geschlagen, bleibt ebensogut ein Ritter wie der König selbst, und den Adel selbst kann ihm Niemand rauben. Darum läßt man ihnen ihre goldenen Sporen, die ihnen stets gebühren, und sogar den verliehenen Herzogshut, aber nimmt ihnen die Talmi-Krone, die ihnen nicht zukommt. Gerechtes Wohlwollen und gerechter Zorn, in beiden dasselbe Gefühl der gütigen oder beleidigten Gerechtigkeit.

Um im Bilde zu bleiben: – Neben mir lebt noch ein andrer König, ein Nachbarkönig auf engerem und beschränktem Gebiet, dessen Königthum man nicht anerkennen will und der eigentlich ein König- ohne -Land, ein Herrscher ohne Vasallen, ist. Dessen Thron habe ich stets gestützt und werde ihn vertheidigen bis zum letzten Blutstropfen, ob er auch mich verrathen würde wie die Andern und mir nie ein Bundesgenosse – höchstens ins Gesicht mit lugenden Worten – war. Aber was schiert das mich! Zu ihm, dem Könige, halte ich, fest und ritterlich; ihn, meinen Feind oder falschen Freund, grüße ich stets mit dem ihm gebührenden Titel; denn er ist ein König.

Aber die Herzöge und Grafen und Barone des[157] Litteraturreichs werde ich nie als gleichberechtigte »Herr Bruder« grüßen – und gestände ihnen alle Welt den Zaunkönigs-Titel zu. Das ist mein »Größenwahn«, mein königlicher Größenwahn, der da wurzelt in der Gerechtigkeit. Bernadotte, der in ein Paar Scharmützeln gesiegt, corrigirte seinen Meister, den Sieger in hundert Schlachten, wie einen Schulbuben – und die andern Marschälle fanden, Er werde alt und könne nicht mehr commandiren. Aber Napoleon blieb darum doch Napoleon.

So. Jetzt können Sie an der Hand dieses Briefes mich ins Irrenhaus stecken lassen. Wenn das nicht Größenwahn ist!

Ich danke Ihnen für Ihren freiwilligen Zuruf, Herr Graf, und werde ihn nie vergessen. Aber meinen Umgang suchen Sie nicht! Ich bin ein einsamer Mann und fliehe vor allem die Berührung mit dem Federvieh wie die Pest. Ich muß allein sein, denn ich weiß: Der Starke ist am mächtigsten allein. Leben Sie wohl! Ihr

Friedrich Leonhart.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 2, Leipzig 1888, S. 137-158.
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