Schon begann Aurora beim Nahen der Sonne ihre Röte mit glühendem Golde zu tauschen, als am Sonntag die Königin aufstand und ihre ganze Gesellschaft wecken ließ. Früher schon hatte der Seneschall allerlei nützliche Dinge in Menge an den bestimmten Ort vorausgesandt, samt einigen geschickten Leuten, die dort alles Notwendige vorbereiten sollten. Als er die Königin schon auf dem Wege sah, ließ er schnell alles übrige aufladen und eilte mit dem Gepäck und der bei den Herren und Damen verbliebenen Dienerschaft weiter, gleichsam als wäre dort ein Feldlager abgebrochen worden.

Vom Gesang von vielleicht zwanzig Nachtigallen und anderen Vögeln geleitet, wanderte die Königin langsamen Schrittes mit ihren Gefährtinnen und den drei Jünglingen einen wenig begangenen Fußsteig entlang, der sie gen Westen führte, über grünende Wiesen und Blumen, die unter den Strahlen der aufgehenden Sonne ihre Kelche zu öffnen begannen. Noch waren sie schwatzend, lachend und sich neckend nicht zweitausend Schritte gegangen, noch hatte die Sonne kaum eine Stunde lang geleuchtet, als die Königin sie schon zu einem schönen und reichen Palast geführt hatte, der ein wenig über die Ebene erhaben auf einem kleinen Hügel stand. Als die Gesellschaft eingetreten war und sich überall in den sauberen und geschmückten Gemächern, die mit allem, was zur Wohnlichkeit dient, reich versehen waren, umgesehen hatte, lobten ihn alle sehr und meinten, sein Besitzer müsse ein begüterter und prachtliebender Herr sein. Als sie dann niedergestiegen waren und den geräumigen und freundlichen Hof gesehen, die Keller voll trefflicher Weine und das Wasser, das im Überfluß hervorsprudelte, eiskalt gefunden hatten, stieg ihre Bewunderung noch.

Hierauf erstiegen sie, der Ruhe bedürftig, eine Terrasse, die[207] den ganzen Hof beherrschte und reich mit Laubwerk und Blumen geschmückt war, wie die Jahreszeit sie bot. Kaum hatten sie sich niedergelassen, so erschien der sorgsame Seneschall und erquickte sie mit dem feinsten Backwerk und trefflichem Weine. Dann ließen sie sich einen rings von Mauern umgebenen Garten öffnen, betraten ihn, und da er ihnen gleich bei den ersten Schritten von wunderbarer Schönheit zu sein schien, fingen sie an, seine Einzelheiten näher zu betrachten. Ringsumher und auch mitten hindurch führten viele geräumige und schnurgerade Wege, die, mit Laubengängen von Wein überwölbt, für dieses Jahr Trauben in Menge zu bieten versprachen. Denn unzählige Rebenblüten verbreiteten einen so starken Wohlgeruch durch den Garten hin, daß er im Verein mit vielen anderen anmutigen Düften unsere Gesellschaft glauben machte, sie befände sich inmitten aller Spezereien des Morgenlandes. Die Seiten jener Gänge waren mit Hecken von weißen und roten Rosenbüschen und von Jasmin fast ganz umschlossen, so daß man nicht nur am Morgen, sondern auch wenn die Sonne am höchsten stand, dort unter wohlriechendem und gefälligem Schatten lustwandeln konnte, ohne von ihren Strahlen getroffen zu werden. Allzu langer Erzählung bedürfte es, um zu berichten, was für Gewächse, in welcher Menge und Verteilung, sich in diesem Garten vorfanden; doch fanden sich alle, die unser Klima vertragen und einiges Lob verdienen, dort im Überflusse.

Nicht geringeren, sondern noch viel höheren Beifall als alles übrige verdiente es, daß sich in der Mitte dieses Gartens eine Wiese von ganz kurzem und so dunkelgrünem Grase befand, daß es beinahe schwarz zu sein schien. Tausenderlei bunte Blumen sprossen aus ihm hervor, und ringsumher standen grünende kräftige Orangen- und Zitronenbäume, die mit ihren reifen und grünen Früchten und mit ihren Blüten nicht nur dem Auge wohltätigen Schatten boten, sondern auch durch ihren würzigen Duft den Geruchssinn erfreuten. In der Mitte dieses Rasenplatzes war ein Wasserbecken von weißestem, wunderbar mit Bildhauerarbeiten geziertem Marmor. Aus ihm erhob sich auf einer Säule eine Figur, welche – ich weiß nicht, ob durch Naturkraft oder durch eine künstliche Anlage – einen Wasserstrahl von solcher Mächtigkeit, daß ein geringerer[208] eine Mühle zu treiben vermocht hätte, hoch gen Himmel emporsandte, worauf er dann nicht ohne ein ergötzliches Plätschern in die klare Schale zurückfiel. Soweit das Becken den Überfluß des Wassers nicht zu fassen vermochte, lief dieses in verborgenen Rinnen unter dem Rasen hin, zog sich, außen wieder hervorrieselnd, in schönen und künstlich angelegten Gräben rings um die Wiese hin, worauf es dann fast nach jeder Richtung in ähnlichen Bächen den Garten durchfloß und endlich, an einer Stelle wieder vereint, diese schönen Plätze verließ, um sich kristallklar ins Tal zu ergießen, nachdem es zuvor noch, zu nicht geringem Vorteil des Besitzers, zwei Mühlen in Bewegung gesetzt hatte.

Der Anblick dieses Gartens, seine schönen Anlagen, die Pflanzen, der Springbrunnen mit den Bächen, die aus ihm flossen, behagten sämtlichen Damen und den drei Jünglingen so sehr, daß alle versicherten, sie könnten sich ein Paradies auf Erden, wenn ein solches möglich wäre, nicht anders vorstellen wie diesen Garten, und erklärten, daß sie keine Schönheit wüßten, die man den hier geschauten hinzufügen könnte.

Wie sie nun voller Freude hier lustwandelten, dem Gesange der Vögel lauschten, die wohl in zwanzigerlei Weisen einen Wettstreit auszutragen schienen, und sich aus verschiedenem Laubwerk die zierlichsten Kränze wanden, wurden sie noch einen ergötzlichen Vorzug dieses Gartens gewahr, den sie bisher, von den übrigen gefesselt, unbemerkt gelassen hatten. Sie entdeckten nämlich, daß der Garten wohl hundert verschiedene Tierarten enthielt. Als erst einer den andern aufmerksam gemacht hatte, sahen sie hier Kaninchen hervorkommen, dort Hasen laufen, hier Rehe liegen und dort junge Hirsche äsen. Außerdem nahmen sie noch viele arglose Tiere wahr, die, nahezu zahm, sich frohgemut tummelten. Und sie fanden hieran ein neues und noch größeres Vergnügen.

Als sie aber, bald das eine, bald das andere beschauend, zur Genüge umherspaziert waren, ließen sie dem schönen Wasserbecken nahe die Tafel decken und gingen, nachdem sie sechs Lieder gesungen und ein wenig getanzt hatten, wie es der Königin gefiel, zu Tische. Hier wurden sie in glänzender, schöner und gemächlicher Weise bedient, wobei die guten und auserlesenen[209] Gerichte sie nur noch mehr erheiterten, so daß sie sich nach aufgehobener Tafel von neuem mit Spiel, Gesang und Tanz so lange ergötzten, bis die Königin der wachsenden Hitze wegen erklärte, es sei Zeit zu ruhen, und wem es gefalle, der möge so tun. Die einen gingen, die andern, hingerissen von der Schönheit des Ortes, zogen es vor zu verweilen, um sich, während die andern schliefen, die Zeit mit Lesen, Brett- und Schachspiel zu vertreiben. Als aber in der vierten Nachmittagsstunde aufgestanden wurde und die Schläfer sich das Gesicht mit kaltem Wasser erfrischt hatten, versammelten sich nach dem Befehl der Königin alle bei dem Springbrunnen, und, nachdem sie sich hier in der gewohnten Weise niedergelassen hatten, erwarteten sie, wie es einen jeden treffen würde, über den von der Königin gewählten Gegenstand Geschichten zu erzählen. Der erste, dem ein solcher Auftrag erteilt wurde, war Filostrato, und er begann folgendermaßen:

Quelle:
Boccaccio, Giovanni: Das Dekameron. München 1964, S. 206-210.
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