Elftes Kapitel

[238] Die Taißburg war ein massiver alter Bau, der mit seinen beiden niedrigen, runden Türmen, die den breiten Mittelbau flankirten, gewaltig aus dem flachen Lande aufstieg. Er war in einer Zeit gebaut, da die brutale Kraft herrschte, moderne Nachkommen des alten Geschlechtes hatten ihm mit großem Aufwand seinen barbarischen Charakter erhalten. Doch blinkten jetzt aus der riesigen Mittelfront, anstatt der einstigen Schießscharten und Luftklappen, zahlreiche Fenster aus romanischer Bogenwölbung. Von den zackigen Zinnen der beiden Zwingertürme wehten Fahnen; eine in den Landesfarben, die anderen mit dem Taißwappen.

Das Portal, an dem eine Anfahrt vorbeiführte, befand sich im Mittelbau. Man mußte um einen Weiher herumfahren, der sich vor dem Schloß ausbreitete. Jetzt deckte ihn eine dünne Eisschicht und die Gruppe der Trauerweiden, die an seiner einen Seite stand, senkte ihre kahlen Zweige so tief herab, daß einige davon im Eise mit fest gefroren waren.[238] Rechts und links schränkten den Blick hohe Tannen ein, die wie eine Mauer standen und ihre breiten, schneebeladenen Zweige bis zum Boden niederlegten.

Ein düsteres, majestätisches Bild in den Farben des Winters und des Todes.

Schon als Fannys Schlitten den Halbkreis um den Weiher machte, erschienen im Portal Gestalten. Ein Durcheinander von Stimmen empfing sie, ein Dutzend Hände streckten sich Fanny entgegen. Joachim fühlte sich jäh aus der Zweiseligkeit herausgerissen – nun stand er wieder daneben, als untergeordnete, jüngere und keinerlei ungewöhnliche Aufmerksamkeit erfordernde Persönlichkeit.

Der Gedanke durchfuhr ihn, wenn Fanny ihn jetzt als ihren künftigen Gatten nannte – der herzliche, aber immerhin flüchtige Händedruck des Grafen würde sich schnell in die größte Beachtung verwandeln. Ein heimlicher Stolz schwellte sein Herz. Fanny liebte ihn – hatte in Demut – in der natürlichen Demut des liebenden Weibes vor dem Geliebten – zu ihm aufgesehen. Er durfte sich allen überlegen fühlen.

Lanzenau war mit einer an ihm ganz seltenen Beweglichkeit um Fanny bemüht – er war glücklich, sie unverändert, mit freiem Blick, mit liebevollem Lächeln zu sehen. Ihm war's, als müßte sie ganz verändert sein, wenn inzwischen sich etwas ereignet hätte – er verfiel in der Wiedersehensfreude in die thörichte Logik, daß, weil sie ihr selbes Lächeln[239] habe, sie auch noch ihr unbefangenes Herz haben müsse.

Graf Taiß führte Fanny auf ihr Zimmer, wo die Gräfin und Lucy von Grävenitz ihrer warteten; Joachim sah sich von einem jungen Vetter des Grafen in Beschlag gelegt. Die ganze Halle wimmelte von Menschen, es mochten gegen zwanzig Gäste in der Taißburg sein. Und die Halle, in deren Tiefe in einem Riesenkamin den ganzen Tag Holzklötze flammten, diente allen wie den Gästen eines Hotels zum Rendezvous und Geschäftsplatz. Hier war der Briefkasten, hier traf man den Hausmeister, wenn man von ihm etwas wollte, hier gingen die Herren rauchend auf und ab, wenn das Wetter eine Promenade im Freien verbot, hier schäkerten die jungen Damen miteinander, wenn sie ihren Uebermut in Gegenwart der zarten Gräfin oder der alten Mutter des Grafen nicht genug auslassen konnten.

Joachim übersah sogleich, daß bei dem Hinundher von Menschen in diesem Hause Fanny ihm so gut wie verloren sei. Nur mit einem einzigen Blick konnten sie sich darüber verständigen – er sah, daß auch Fanny unter dem Gedanken litt.

In dem Turme rechts waren die Fremdenzimmer für die Damen, in demjenigen links für die Herren. In den wenigen, aber geräumigen Gastzimmern, die im Mittelbau noch neben den Schlafräumen der gräflichen Familie übrig waren, hatte man die Ehepaare[240] untergebracht. Diese, auf der Taißburg schon lange übliche Einteilung rief alljährlich einige wohlfeile Witze über diese Scheidung und die bekannte beim jüngsten Gericht hervor, die auch Joachim hören und belachen mußte, als der Vetter ihn nach dem Zimmer brachte, wo er wohnen sollte.

Dann unterhielt ihn der »Vetter Heini«, wie alle Welt diesen nannte, noch von den jungen Damen, sagte ihm, daß die beiden Comtessen Sieburg »kalberig« seien, insbesondere Lulu mit den Sommersprossen und den wässerigen Augen, während Fifi noch manchmal ein vernünftiges Wort rede; daß Fräulein von Meerheim eine verteufelte Hexe sei, ein pikanter, kleiner, schwarzhaariger Mops, und daß ... Joachim hörte noch allerlei Namen und noch allerlei Unterweisungen, dankte aber seinem Schöpfer, als Vetter Heini ging. Vetter Heini ging in seinen großen englischen Schuhen – er trat natürlich mit den Hacken zuerst auf – und seinem nachlässig eleganten Gang, die Hand in der Hosentasche, zu den jungen Damen hinab, um ihnen zu sagen, daß Herr von Herebrecht ein liebenswürdiger Mensch scheine. Vetter Heini hatte einen steifen Halskragen von ungewöhnlicher Höhe um, trug einen weißseidenen Plastron, kurz geschorenes Haar und zwei »Landwehrstrippen« – jene schreckliche Bartform, welche für einen Gommeux unerläßlich ist. In dieser Zustutzung, die er für seine magere weißblonde Erscheinung unwiderstehlich vorteilhaft glaubte, spielte er immer[241] inmitten der Damen den Unentbehrlichen, Vielgeliebten, aber philosophisch Abgehärteten. Er hatte es für seine Pflicht gehalten, Joachim das fühlen zu lassen.

Joachim aber hatte nur die Störung empfunden. Eine rasende Ungeduld bemächtigte sich seiner, als er allein war. Alles in ihm drängte zu Fanny hin. Welch erbärmliches Dasein, dieses Leben in der Konvention der Gesellschaft! Ob Fanny sich nicht auch nach ihm sehnte? Wenn sie doch hätten weiter durch die stillen Lande fahren können – so wie vorhin. Immer weiter und die Welt und alle Erinnerungen vergessen und die süße Gegenwart ganz, ganz auskosten. Nicht voraus denken – nicht fragen: »Was kommt morgen?« Heute nur, heute die schönsten Augen liebevoll auf sich ruhen fühlen, heute nur an dem gewährenden Munde hängen.

Wenn sie, anstatt nach der Taißburg zu den vielen Menschen, lieber nach Berlin gefahren wären, dort im Gewühl unterzutauchen, und, einsam mitten im Lärm, selige Tage verlebt hätten? Warum war ihm der Gedanke nicht im Schlitten gekommen? Fanny hätte eingewilligt – sie hatte ja niemand von ihrem Kommen und Gehen Rechenschaft zu geben.

Diese Vorstellung ergriff ihn wie ein Fieber. Gewiß, in dem ungestörten Beisammensein hätte er auch die Stunde und den Mut gefunden, ihr von Severina zu beichten, und alles wäre klar gewesen, ehe sie nach Mittelbach zurückkehrten. Fanny hätte entscheiden[242] können, welcher von beiden er gehören solle. Nun däuchte er sich ein Opfer der Verhältnisse. Hier konnte er Fanny nichts beichten; hier mußte er froh sein, wenn sich überhaupt nur eine heimliche Stunde für sie beide fand.

Plötzlich hörte er nebenan laut sprechen; es war Lanzenaus Stimme. Die Wände waren dünn, man hatte sie in dem großen Raum aufgeführt, um kleine Gemächer aus dem gewaltigen Turmrund zu schaffen.

»Fragen Sie, ob die gnädige Frau mich empfangen will,« hörte er Lanzenau sagen.

Joachim horchte gespannt. Nach einer ganzen Weile, die genügt haben mochte, daß ein Diener vom linken zum rechten Turm hin und her ging, trat jemand bei Lanzenau ein und eine höfliche Domestikenstimme sagte:

»Die gnädige Frau bedauert. Sie wünschen bis zum Déjeuner zu ruhen.«

Ohne Zweifel, die Frage war an Fanny ergangen, die Antwort kam von ihr.

Armer Lanzenau! Meinetwegen wirst Du nicht empfangen, dachte Joachim mit unsäglichem Triumphgefühl.

»War Frau Förster allein?« fragte Lanzenau wieder.

»Nein, die Jungfer kramte im Schlafzimmer der Gnädigen den Koffer aus und Fräulein von Grävenitz war bei Frau Förster im Salon.«

»Es ist gut, Sie können gehen.«[243]

»Ah,« dachte Joachim glücklich, »man hat Fanny ein besseres Logis gegeben« – er sah sich in seinem einfachen Zimmer um – »sie hat einen Salon, sie erteilt dort Audienzen, man kann zu ihr gehen.«

Dabei fiel ihm ein, daß er ihr Etui mit ihrem Brillantencollier in der Brusttasche seines Pelzes hergebracht habe, weil Fanny es nie in ihrem Koffer zu transportiren pflegte.

»Das werde ich ihr bringen,« dachte er, »es wird sich schon eine Zeit dazu finden heute.«

Und in der That, sie fand sich.

Vorerst aber wechselte Joachim seine Kleider und ging in die Halle hinab, wo Vetter Heini ihn mit den jungen Damen bekannt machte. Vetter Heini war bisher der »Einzige« gewesen; zu den Tanzfesten kamen von dem Nachbarstädtchen die Offiziere des dort garnisonirenden Regiments, in den anderen Zeiten mußte er allein die jungen Mädchen unterhalten. Kein Wunder, daß der Zuwachs an Herrengesellschaft sehr willkommen war und Joachim von den ihm günstigen Umständen Vorteil hatte. Als die Glocke in der Halle zum Frühstück läutete, war er schon bon camarad mit allen, insbesondere aber mit der kleinen Meerheim, die bloß auf Joachim gewartet hatte, um den – heimlich von ihr zum Gatten ausersehenen Heini – eifersüchtig zu machen. Als Fanny die Treppe herab kam, sah sie mit Vergnügen, daß Joachim mit der Jugend schon auf bestem Fuß stand.[244]

Die Hausordnung in der Taißburg forderte, daß alle Gäste sich um halb zwei zum gemeinsamen Frühstück versammelten. Nachher stand es in jedermanns Belieben, seine Zeit bis zum Mittagessen um sechs Uhr zu verbringen, wie er wollte. Es war heute von einer Schlittenfahrt die Rede, aber es schien, als sollten die jungen Damen nur Herrn und Frau von Dören, sowie den Hausherrn dazu bereit finden. Fanny und Joachim hatten ja von früh um acht Uhr bis um zwölf des Mittags im Schlitten gesessen. Die Gräfin und ihre Schwester mußten für den morgigen Doppelgeburtstag viel vorbereiten. Die Herren zeigten keine Lust.

Joachim bemerkte, daß Lanzenau an Fanny die Bitte richtete, ihr dann vor Tisch ein Stündchen zu schenken, aber Fanny sagte, daß sie ganz schläferig von der langen Schlittenfahrt sei. Lanzenau war davon sichtlich verstimmt, als er nach dem Frühstück mit Joachim den Korridor entlang ging. Auch Joachim sagte, daß er schlafen wolle.

Der Baron warf sich in seinem Zimmer auf die Chaiselongue, daß es krachte. Er deckte sich die Schlafdecke über die Beine, wickelte dasjenige, in welchem ihn die Ischias zuweilen plagte, besonders ein und nahm ein Buch. Aber die »hypochondrischen Plaudereien« von Amyntor, an denen er sich sonst mit einer Art grimmigem Behagen sättigte, konnten ihn heute nicht fassen. Von unten her klang Pferdewiehern, Glöckchenklang,[245] Stimmenruf, dann läutete die kleine Reihe der Schlitten davon. Die Gesellschaft hatte in der That ihren Plan ausgeführt.

Bald nachher ging nebenan die Thür. Lanzenau horchte: war jemand zu Joachim gekommen, oder war dieser gegangen? Alles still! Wo konnte er hingegangen sein? – Er hatte doch von Müdigkeit gesprochen.

Lanzenau schrak zusammen. Zu Fanny? Ach, Unsinn! Zu Fanny, mit der er heute viele Stunden im Schlitten gesessen, die er auf Mittelbach jeden Tag so oft und so lange er gewollt sprechen konnte? Wohin denn? Schließlich – was ging es ihn an?

Lanzenau zündete sich eine Cigarrette an und las weiter. Es ging nicht, die unbegreifliche Unruhe verzehrte ihn. Dann fiel ihm etwas ein. Natürlich – so war es: der Rittmeister von Meerheim, der martialische Vater des »pikanten, schwarzhaarigen Mopses« war ein fanatischer Skatspieler – der hatte sich ohne Zweifel Heini und Joachim gepreßt und sie saßen zu dritt in Heinis oder in des Rittmeisters Zimmer.

Eine Weile hielt Lanzenau das aus. Es dunkelte – alle Geister der Ungeduld erhoben sich von neuem. Da kamen auch die Schlitten zurück; also mehr wie eine Stunde war vergangen. Es wurde laut in den Korridoren, alle Welt ging, um auszuruhen, oder sich zu Tisch anzukleiden.

Durch die Thürspalte fiel Licht; ein leiser Schritt[246] ging draußen vorbei: der Diener hatte die Lampen in den Korridoren entzündet. In Lanzenaus Gemach war jene tiefe Dämmerung, die vom Schnee draußen einen letzten trügerischen grauen Schein borgt, ehe sie zur schwarzen Nacht versinkt. Wenn in Fannys Zimmer auch diese Dunkelheit herrschte – wenn dort im Schatten zwei flüsterten – zwei Augenpaare sich nahe, ganz nahe anblitzten? ... Lanzenau fühlte, daß ein kalter Ohnmachtsschweiß an seinem Körper hinab ging.

Er ertrug es nicht mehr, er sprang auf. Die Glieder gehorchten der jugendlichen Hitze des Kopfes nicht so leicht; ein Schmerzgefühl riß durch sein Bein.

Er ging nach Heinis Stube. Niemand rief: »Herein!« alles war still. Der Rittmeister wohnte ein Stockwerk höher.

Ah – schon auf der Treppe hörte Lanzenau die rauhe Stimme lachen und eine andere dazu. Er klopfte an, trat ein; da saß der Rittmeister mit Heini beim dampfenden Grog, den er wunderbarerweise zu allen Tageszeiten und zwischen allen Getränken vertrug. Der Rittmeister auf einem Ledersofa, die Ellenbogen auf dem Tisch, die eine Hand an der riesigen pfeifenkopfartigen Cigarrenspitze, die andere am grauen Schnauzbart. Heini ihm gegenüber rittlings auf einem Rohrstuhl, auf dessen Lehne er die Arme verschränkte.

Der Rittmeister hielt in seinem Bericht eines unglaublichen Kriegserlebnisses inne und rief Lanzenau entgegen:[247]

»Ein dritter Mann! Vous êtes le bienvenu, monsieur le baron! Heini, die Karten! Wollen Sie einen Grog, Lanzenau?«

Lanzenau war recht nach Grogtrinken und Skatspielen zu Mute. Aber wenn er's auch abwies, mußte er doch erst niedersitzen und wenigstens die Geschichte hören, die der Rittmeister wieder von vorn anfing und die Vetter Heini heute zum zehntenmal mit schallendem Gelächter belohnte, bloß dem »Mops« zu liebe. Der Rittmeister fühlte sich dadurch so angeregt, daß er Lanzenau, als dieser dann gehen wollte, noch am Rockknopf festhielt, damit der sich erst erzählen lasse, wie es mit der Reiterattake da und da gewesen.

Wäre nicht endlich Herr von Dören erschienen, um zu sehen, ob er sich hier bei einem gemütlichen Skat von der Unterhaltung mit den Comtessen Sieburg erholen könne, die im Schlitten zu führen sein Los gewesen, so hätte die Erlösung für Lanzenau nie geschlagen. Er ging wieder in den ersten Stock hinab, durchschritt den endlosen Korridor und stand mit Herzklopfen vor Fannys Thür.

»Nur herein!« rief Fanny, und als er schon auf der Schwelle stand: »Alle Welt gibt sich in meinem Zimmer Rendezvous.«

Fannys Zimmer war von einer großen Lampe sehr hell beleuchtet; die Herrin saß auf dem Sofa, neben ihr Frau von Dören; die Gräfin, Lucy und Joachim standen am Tisch und betrachteten Adriennens[248] Bild, welches Fanny der Gräfin mitgebracht. Also doch Joachim! Aber nicht allein, in der zahlreichsten Gesellschaft, ganz wie es hier üblich war, wo die Gäste um diese Zeit sich wohl in dem Zimmer der einen oder des andern einfanden. Lanzenau atmete auf.

»Ich bin ein Narr,« sagte er sich, während seine Pulse sich rasch ebneten.

Den Blick voll schwärmerischen Mitleids sah er nicht, den Lucy auf ihn richtete, und wenn er ihn gesehen, hätte er ihn sich kaum zu deuten gewußt. Und die Deutung war doch diese: als Lucy vor einer Viertelstunde das Zimmer betreten, nach ihrer zerstreuten Art ohne anzuklopfen, mußte es ihr klar werden, daß sie störend und überraschend kam. Fanny war ihr stürmisch um den Hals gefallen und hatte sie gebeten, zu schweigen, hatte ihr gesagt, daß aus »bekannten Rücksichten« sie noch der Gesellschaft ihre Verlobung mit Joachim nicht mitteilen könne.

Lucy war entzückt, ein romantisches Geheimnis zu wissen, bedang sich aus, nachher erzählen zu dürfen, daß sie die Vertraute gewesen, und fand es besonders interessant bei dieser Liebe, daß Fanny älter sei als Joachim.

So hatte Joachim denn auch für seine Liebe zu Fanny einen Mitwisser, wie Lanzenau die zu Severina kannte. Das hämmerte ihm in den Schläfen und machte ihn ganz ratlos.

Gleich nach Lucy traten dann die Gräfin und Frau[249] von Dören ein und halfen unbewußt, ein harmloses Bild zu stellen, das für heute wieder Lanzenaus tiefe Sorge übertäubte.

Bei Tische wurde viel geflüstert und gekichert. Die Jugend sollte am Abend rasch ein Festspiel einstudiren, das Lucy zu Ehren ihrer Schwester und Fannys gedichtet. Dies Festspiel paßte zwar nicht mehr auf die Situation, denn es stellte Fanny als selbstherrliches, freies, die Liebe und Mannesknechtschaft verschmähendes Weib in Gegensatz mit der zarten, liebenden Gräfin, die als Gattin und Mutter ihren Wirkungskreis begrenze; hiebei fiel auf Fanny alle Glorie und auf die Gräfin nur einiges notgedrungene Lob. Aber einstudirt mußte es werden und die Veränderung war – so tröstete sich Lucy – ja niemand weiter bekannt. Joachim mußte mitwirken.

So kam es, daß die älteren Glieder der Gesellschaft sich diesen Abend von der Jugend absonderten und in ruhigen Gesprächen um den Theetisch saßen. Fanny zeigte sich seltsam zerstreut, und wie Lanzenau ihr so gegenüber sie prüfend betrachtete, fiel es ihm auf, daß sie doch – doch verändert sei. War es inzwischen geschehen, oder war's ihm heute früh entgangen?

Das Licht eines großen, geheimnisvollen Glücks strahlte aus ihren träumerischen Augen, diesen Augen, die sonst durch ihren raschen, gesammelten Blick gebietend wirkten. Und um ihren Mund lag ein Zug – ein nie gesehener, unerklärlicher.[250]

Die Thür vom Salon der Gräfin nach dem großen Saal stand auf. Die junge Welt erschien dort, begnügte sich aber, herein zu nicken und etablirte sich um den großen runden Tisch unter dem Kronleuchter zu irgend einem Spiel.

Fanny fühlte es wie einen Schmerz, daß Joachim zwischen den jungen Mädchen blieb. Aber natürlich – wie konnte er anders, er mußte thun, was Vetter Heini that. Und wie lustig er mit der kleinen Meerheim war und schon so vertraut.

Auch die anderen richteten ihre Beobachtungen auf das Bild, welches sich im Rahmen der Thür anmutig genug bot.

»Der junge Herebrecht ist ein selten liebenswürdiger Mensch,« sagte Graf Taiß, »insbesondere die Herzen der jungen Damen scheinen ihm nur so zuzufliegen. Ina Meerheim ist ja ganz aus dem Häuschen.«

»Natürlich,« sprach Lanzenau, während er sein Augenglas einklemmte, um auch seinerseits hinzusehen, »natürlich, dieser außerordentliche junge Mann reitet wie der Teufel, schießt wie ein Freischütz und tanzt wie ein Lieutenant – erhabene Eigenschaften genug, um alle Weiber verrückt zu machen.«

Der bittere, ja, fast gehässige Spott in diesen Worten war so auffallend, daß alle sekundenlang schwiegen. Graf Taiß klopfte Lanzenau lächelnd auf die Schulter.

»Und nebstbei, mein Lieber, ist er fünfundzwanzig[251] Jahre alt, während wir die Ziffer in wenig Jahren umgekehrt haben. Das muß uns nicht neidisch machen.«

Diese gutmütige Zwischenbemerkung ward von Lanzenau nicht vernommen. Er sah in Fannys Gesicht; das war ganz bleich und ihm mit starren Augen zugewandt. Und jetzt sagte sie, scharf, herbe, mit dem Ausdruck jäh erwachter Feindseligkeit gegen Lanzenau:

»Sie vergessen, hinzuzufügen, daß Herr von Herebrecht der pflichtgetreueste und thätigste Arbeiter in seinem Beruf, daß er der zärtlichste und dankbarste Bruder ist und daß er es bis heute verstanden hat, sich von allen Verschwendungen fern zu halten, zu denen junge Leute unseres Standes sonst tausendfach verführt werden.«

Ihre Blicke wurzelten ineinander, drohend, fest. Lanzenau begriff, daß Fanny ihrer Liebe zu Joachim sich bewußt geworden und daß auch Joachim darum wisse, daß sie ihn verteidigte, weil sie zu ihm gehörte.

Er erhob sich. Dunkle Röte stieg langsam in sein Gesicht. Ihm schwindelte – er mußte sich wieder setzen, aber nur einige Sekunden; dann stand er auf und ging hinaus.

»Was war das?« fragte die Gräfin betroffen.

»Ich weiß es nicht,« antwortete Fanny mit blassen Lippen, »jedenfalls eine Thorheit.«

Die Gesellschaft, obgleich oder vielleicht weil sie ohne Ausnahme die Sache durchschaute, ging rasch zu[252] einem andern Gespräch über. Beim Abendtisch, zu dem Lanzenau sich entschuldigen ließ, setzte die Gräfin Joachim neben Fanny.

Als Joachim nach Lanzenau fragte, sagte Fanny leise, daß sie sich seinetwegen mit dem Baron scharf gestreift. Eine erneute Angst überfiel Joachim. Gott – wenn Lanzenau ihn verriete! Fanny müßte ihn verachten, und doch ... er konnte nicht anders, ihm war's, als habe er einer Macht gehorcht, die stärker war als sein Gegenwille.

Die tiefe Sorge, die ihn befallen, kam in tausendfach verstärkter Gewalt wieder, als er zur Nacht allein in seinem Zimmer war. Und er, der in seinem ganzen Leben nur Briefe geschrieben, wenn eine Zwangslage ihn nötigte, er setzte sich hin und schrieb an Severina.

Alles war still im weiten Schloß. Die Lampe brannte vor Joachim auf dem Tisch, die behagliche Wärme, die aus den heißen Luftröhren durch das Kamingitter strömte, hielt jedes Nachtfrösteln fern. Von nebenan klang ein tiefer, sägender Ton – Vetter Heini schlief da den Schlaf des Gerechten, an der andern Seite war Totenstille. Dort wachte vielleicht Lanzenau auf ruhelosem Lager.

Dieser Gedanke übermannte Joachim plötzlich; er legte sein Gesicht in seine Hände und seufzte tief. Seinetwegen hatte Fanny mit dem treuesten aller Freunde scharfe Worte gewechselt. Seinetwegen ... o, es war nicht auszudenken. Das Gefühl seiner[253] Unwürdigkeit durchschütterte ihn; und doch fand er keinen Ausweg.

Endlich faßte er sich und schrieb:

»Schreiben Sie an Adrienne oder an Severina, daß wir nicht, wie es seit Wochen geplant war, am Tage nach meinem Geburtstag nach Mittelbach zurückkehren. Der starke Schnee verhindert die beabsichtigte Jagd; da aber heute abend alle Anzeichen von Tauwetter vorhanden sind, schlägt Taiß vor, daß wir dasselbe abwarten. Somit bitte ich, daß alle Vorbereitungen zur Aufnahme der Gäste wie zum Jagddiner um einige Tage hinausgeschoben werden. – Das war die Bestellung, welche Fanny mir beim Abendtisch gab nach den gemeinsam gepflogenen Beratungen. Ich richte sie Dir aus, Severina, weil ich noch mehreres hinzuzufügen habe.«

Joachim hielt inne und lächelte in bitterer Selbstverspottung über den Ausdruck: »weil ich noch mehreres hinzuzufügen habe.« Als wenn es sich etwa um das Menü handelte, welches es beim Jagdessen geben sollte.

»Wenn Du diese Zeilen zu Ende gelesen haben wirst, bist Du vielleicht nicht mehr im stande, mich zu lieben. Aber mein Herz ist so beunruhigt, daß ich wenigstens versuchen will, es Dir gegenüber zu erleichtern. Liebe Severina, ich sagte Dir immer, daß ich Deine heftige Neigung nicht verdiene. Ich kann nicht treu sein, so gern ich möchte. Ich liebe Dich,[254] bei Gott, es ist keine Lüge; aber sage mir, kann man zwei Frauen zugleich lieben? Gewiß, wirst Du sagen, aber auf verschiedene Art. Aber das ist es eben, ich kann keinen Unterschied entdecken. Wenn ich an Dich denke, zerreißt es mein Herz wie Vorwurf und Sehnsucht, und wenn ich an sie denke ... ach, ich wage kaum auszudenken. Severina, hilf mir; was soll ich thun? Ich werde noch an diesem Dualismus zu Grunde gehen. Wie konnte das nur alles so kommen, und wie konnte ich, der ich bisher allezeit dem strengen Auge meines Arnold frei zu begegnen vermochte, wie konnte ich etwas thun, das er heftig verdammen würde? Und doch, es mag Dir wie Verblendung klingen, doch ist es nur namenloser Zweifel, der mich erfüllt, aber kein Schuldbewußtsein.

Schreibe mir umgehend wieder. Vielleicht kannst Du mir den Schlüssel zu alle dem geben.

Dein unselig-seliger Joachim.«


Etwas erleichtert legte er sich schlafen.

Wer kann in die letzten Falten einer Menschenseele blicken. Regte sich da bei Joachim vielleicht die Hoffnung, daß Severina ihn frei gäbe?

Seine Gedanken suchten nach Beispielen, die ihn entlasten und seine Herzensgeteiltheit als nicht so etwas Unerhörtes darstellen sollten. Ihm fiel Schiller ein, der ebenfalls in Doppelliebe für zwei Schwestern entbrannte. Während er sich zu vergegenwärtigen suchte, was er darüber schon alles gelesen und daß Schiller[255] die unbedeutendere Schwester geheiratet, beruhigte er sich vollends.

Und die Gegenwärtigen haben immer recht. Fanny erstand vor ihm und die Stunde, die er heute mit ihr verlebt, bis Lucy kam. Fanny hatte jetzt Rechte – alle Rechte an ihn; das Schicksal und Fanny hatten entschieden.

Selig erschauernd stammelte er ihren Namen.[256]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 238-257.
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