Vierzehntes Kapitel

[298] Auf der Landstraße fuhren in scharfem Trabe zwei Wagen hinter einander her. Der erste war Fannys Landauer, in dem zweiten saß ihre Jungfer neben den Koffern und sah mit dem traurigsten Gesicht in die Landschaft hinein. Sie hatte ihr Herz bei einem der Diener in der Taißburg zurückgelassen und vergegenwärtigte sich noch einmal, wie vornehm und gebildet der Geliebte erscheine, und hielt das Zeugnis seiner Bildung – Schillers Werke in einem Band, die er ihr als Andenken geschenkt – zwischen den gefalteten Händen wie ein Gesangbuch. Sie erinnerte sich auch, daß er ihr anempfohlen habe, in traurigen Stunden darin zu lesen, und schlug sich Don Carlos auf. Doch gleich die ersten Worte:


»Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorüber

Und Sie, mein Prinz, verlassen es nicht heiterer als zuvor,«


ergriffen sie so, daß sie sich in die Ecke setzte, um zu schluchzen.[298]

Im Landauer saßen Fanny und Graf Taiß, ihnen gegenüber auf dem Rücksitz Lanzenau und Joachim. Taiß hatte darauf bestanden, seine Freunde nach Mittelbach zu begleiten, um sich gleich die genauesten Nachrichten über das Befinden des Kindes zu holen. Joachim war in demselben Augenblick in der Taißburg angelangt, als Fannys Wagen eintrafen und mit ihnen die Donnerkunde von der tödlichen Erkrankung des Kleinen. Eine Stunde später fuhr man ab, von der ganzen, teils enttäuschten, teils mitfühlenden Gesellschaft an den Wagen geleitet.

Die vier Gefährten sprachen wenig zusammen. Fanny saß, in ihren Pelzmantel gewickelt, in eine Ecke gedrückt und verfolgte mit den Augen die vorbeiziehenden Bäume oder Telegraphenstangen am Wege. Ihr Herz war so voll Sonnenschein und Glück, daß sie sich Mühe geben mußte, an die Kunde von Krankheit oder Tod zu glauben.

Joachim sah schlecht aus, überwacht und bleich, wie jemand, der viele Nächte durchtollt oder durchsorgt hat. Sein Gemüt war wie betäubt, eine Welt von Sorgen hatte sich auf seine Brust gewälzt: Fanny – Severina – das sterbende Kind – ihm war, als müßten die nächsten Stunden den Tod auch für ihn bringen.

Graf Taiß glaubte, daß es seine Pflicht sei, die von Angst gelähmten Geister seiner Freunde zu ermuntern; er fragte Joachim nach den Resultaten seiner[299] Reise auf die Itzelburgischen Güter und ob er sich bei seinem zweimaligen Durchpassiren der Residenz in Berlin amüsirt habe. Darauf erzählte Joachim, daß er eine kleine Frist zur Entscheidung über die Annahme der Stellung sich vorbehalten, um nicht den Schein zu erwecken, er sei in der Lage, mit beiden Händen zugreifen zu müssen. In Berlin habe er sich vortrefflich amüsirt.

So floß mühsam ein Gespräch bald mit Joachim, bald mit Lanzenau hin wie eine Quelle, die sich nur schwer durch Gestrüpp ihren Weg bahnt. Und der Tag draußen, den sie durch die Wagenfenster sahen, war auch nicht darnach angethan, verstimmte Seelen zu erhellen.

Ueber der schneefreien, leichtgefrorenen Erde stand ein gleichmäßig hellgrauer Himmel, vollkommen sonnenlos und doch von jener blendenden Schärfe des Lichts, wie ihn nur der Norden kennt. An den dürren Knicken saß das braune Laub der Hainbuchen, der Wind rasselte darin; an den dünnästigen Kronen der Ebereschen saßen zum Teil noch die roten Beeren am blätterlosen Gezweig. Ueber die endlosen Stoppelbreiten rechts und links von den Wegen ging hie und da ein Pflug; dazwischen schoben sich Felder, welche die keimende Wintersaat schon mit leisem Grün überschleiert hatte.

»Ein vorzügliches Jagdwetter,« bemerkte Taiß, »schade um den zerstörten Plan.«[300]

»O,« sagte Fanny und sah Joachim trostreich an, »ich hoffe, daß die Kunde, die uns ward, erst von der Angst Adriennens und dann vom Kutscher noch übertrieben ward und daß der Kleine schon bald so wohl ist, daß wir nach Herzenslust jagen können.«

»Gewiß,« meinte auch Lanzenau, »wenn der liebe Junge ernstlich krank wäre und in der That, wie der Kutscher erzählte, seit beinahe acht Tagen zu Besorgnissen Veranlassung gab, hätte doch Severina oder der Pastor geschrieben. Oder hatten Sie inzwischen irgendwelche Nachrichten von Fräulein Severina?«

»Ich – nein. Wie sollte ich?« sagte Joachim verwirrt.

»Wie sonderbar!« dachte Fanny befremdet und sah Lanzenau fragend an; »wie sollte Severina dazu kommen, an Joachim ... wie kann Lanzenau das voraussetzen?«

Und zu ihrer noch größeren Befremdung sah sie Joachims Gesicht in Glut aufflammen. Was bedeutete dies Erröten?

Eine Unruhe, ein Gefühl kam über sie, das noch kein Gedanke, keine Vermutung war, sondern nur eine dunkle, lähmende Empfindung.

Da fuhren sie auch schon in den Hof des Herrenhauses ein, da hielt der Wagen schon vor der Thür. Sekundenlang war ihnen allen, als seien ihnen die Füße zu schwer, um auszusteigen. Ein gewisses Etwas im Gesicht jenes Knechtes dort, der stillstand, um der[301] Herrschaft zuzusehen; das Gesicht des Dieners, der das Hausthor öffnete; die verhängten Fenster, die man trotz der erwarteten Rückkunft der Hausbewohner zu lüften vergessen – dies alles gab ihnen jäh die schaurige Empfindung, die jeden befällt, der ein Haus des Todes betritt.

Fanny war die erste, die herauskam.

»Nun?« rief sie.

Der Diener trat zurück, um sie vorbei zu lassen, und senkte schweigend den Kopf.

»Das Kind – das Kind?« fragte sie mit stockendem Herzschlag. Sie hatte begriffen und fragte doch. Schon stand auch Joachim neben ihr, und da ihnen wieder keine Antwort wurde, wußten sie alles.

In der nächsten Minute riß Fanny oben die Thür auf und hielt die arme junge Mutter in ihren Armen. Joachim stürzte mit einem Jammerruf neben der kleinen Leiche nieder, die schon feierlich zugerichtet, mit allen Blumen, die das Treibhaus nur gegeben, umkränzt, mitten im Zimmer aufgebahrt stand.

Adrienne weinte leidenschaftlich, ihr Schmerz hatte Thränen und Worte, und sie klagte in Fannys Armen von den Stunden der Angst, die sie erlitten, von der namenlosen Sehnsucht, die ihr Herz nach dem Gatten, dem Ahnungslosen, Geliebten ergriffen habe. Ja, sie wandte sich, neu erschüttert, dem jungen Mann zu, der, das Gesicht in beiden Händen verborgen, heftig schluchzte.[302]

Sich an ihn lehnend, ihn mit beiden Armen umschlingend, flüsterte sie unter Thränen:

»Was wird unser Arnold sagen!? Er wird noch heute, noch morgen und viele Wochen von seinem Liebling träumen und nicht wissen, daß wir ihn verloren haben.«

»Warum hast Du mich nicht gerufen, damit ich bei Dir und ihm sein konnte? Nun kann ich Arnold nichts von der letzten Stunde seines Kindes sagen. Ich war fern – o Gott – vielleicht gerade in einem leichtsinnigen Vergnügen verstrickt!« klagte Joachim.

»Kommt,« sagte Fanny weinend, »quält euch nicht so. Wir wollen nicht an das Unabänderliche, Gewesene denken, sondern voraus, an unsern armen Arnold.«

Sie hatte gefühlt, daß endlich in dem Herzen der jungen Frau die rechte Gattenliebe erwacht war, und wußte, daß die Sehnsucht nach ihrem Manne der gesundeste Begleiter des natürlichen Kummers sein werde. – Adrienne antwortete auf Joachims Frage:

»Severina verhinderte mich, euch zu rufen.«

Joachim erschrak so, daß er zitterte; er hielt sich an dem Rand des kleinen Sarges fest und sah starr auf das stumme Kind hernieder.

So hatte er seine Pflicht erfüllt, seines Bruders Weib und Kind mannhaft beizustehen, dafern Leid und Not sie treffen sollte. In der schrecklichsten, bangsten Stunde ihres Lebens waren sie ohne den Halt[303] und Trost seiner Liebe gewesen. In den letzten, erstickenden Minuten der Todesnot hatte er nicht als Wächter am Bette des Kindes gesessen, und warum nicht?

Severina hatte nicht den Mut gehabt, ihn zu sehen. Wegen seiner wankelmütigen Liebeständeleien hatte er dem geliebten und gefürchteten Bruder gegenüber sich diese Schuld, diese nie verzeihbare Unterlassungssünde aufgeladen.

Er blieb wie versteinert.

Fanny, nachdem sie noch lange liebevoll mit Adrienne gesprochen, zog sich zurück, nicht ohne mit leiser Hand Joachims Rechte geliebkost zu haben. Doch er schien diese ihre Berührung nicht zu bemerken.

Lanzenau hatte unterdes seine Anordnungen getroffen, nicht nach Driesa weiterzufahren, sondern mit Taiß hierzubleiben. Beiden schien es klüger, in der steten Nähe der Trauernden zu sein und diese durch ihre Gegenwart vor allzu heftiger Hingabe an den Kummer zu bewahren, denn sie wußten beide, daß Fanny alles mitfühlen würde, als sei ihr selbst ein Kind gestorben.

Lanzenau sprach auch mit Severina einige liebevolle Worte, er sagte ihr, daß Joachim in wenig Tagen der Inhaber einer vielbeneideten Stellung sein würde und daß man dann, wenn nur erst der frische Gram Adriennens ein bißchen verwunden sei, an Verlobung und Hochzeit denken könne. Er wunderte[304] sich, daß Severina dies mit dem Gesicht einer Sphinx anhörte, steinern und rätselhaft im Ausdruck.

Dann zog er sich mit Taiß in ihre Zimmer zurück, wo beide Herren allein ihr Mahl nahmen und sich die Zeit mit Schachspiel kürzten.

Nachdem Fanny sich ein wenig besonnen und erfrischt hatte, kehrte sie zu Adrienne zurück, schickte Joachim fort, damit er mit dem Pastor das Nötige wegen der Beerdigung verabrede, die sie auf den nächsten Abend bestimmte, und versuchte ihr möglichstes, die junge Frau zu überreden, daß sie sich ein wenig zu Bett lege.

»Komm in mein Zimmer, das Mädchen kann so lange den Kleinen bewachen. Du mußt jetzt Deine Gesundheit doppelt schonen, denn wenn Arnold heimkehrt, soll zu dem Kummer über sein Kind nicht die Sorge für sein Weib kommen.«

Endlich halfen diese in allen Formen wiederholten und veränderten Vorstellungen, und Adrienne, die in der That vom Wachen und Weinen ganz entkräftet war, ließ sich in Fannys Bett legen, worauf Fanny dann ging, um endlich, endlich ein Wort mit »Achim« reden zu können.

Dieser war, nach schnell beendetem Geschäft beim Pastor, ins Haus zurückgekehrt und saß in jenem Wohnzimmer, wo Fanny ihn porträtirte und wo Severina ihnen das wilde Lied von Ginevra und Lanzelot gelesen. Er starrte zum Fenster hinaus in[305] den winterlichen Park, in dessen Wegen kleine Wirbel welker Blätter entlang tanzten, und dachte, ob es nicht ein Traum gewesen, daß vor wenig Tagen noch Fanny, schön, vielgefeiert und geehrt, sich ihm zu eigen gegeben.

So fand ihn Severina, die ihn seit seiner Ankunft noch nicht gesehen. Langsam kam sie auf ihn zu, ihre Augen wurzelten ineinander. Sie konnten beide nicht sprechen, den beiden schlug das Herz bis zum Halse hinauf, und die heiße Erregung der Angst schnürte ihnen die Kehle zu. Jeder fürchtete, vom andern sein Todesurteil zu hören, Joachim, daß sie sagen würde: »Ich verachte Dich,« und sein ganzes Wesen wallte doch auf im Wunsche, sie zu küssen, Severina, daß er sagen könne: »Ich liebe Fanny allein,« und doch hätte sie ihr Leben dafür gegeben, noch einmal an seinen Lippen zu hängen.

»Severina,« murmelte er endlich, »kannst Du mir verzeihen? Bei Gott, es ist keine Lüge, ich liebe Dich!«

Severina atmete tief; es klang wie ein Seufzer. Eine seltsame Härte breitete sich plötzlich über ihre Züge.

»Du wirst Fanny die Wahrheit sagen,« sprach sie hart, »die Wahrheit, daß Du mein bist.«

»Wie kann ich das?« sagte er verzweifelt; »Fanny einen Schmerz zufügen – Fanny, der ich so vielen Dank schulde?«

»Das hättest Du Dir ins Gedächtnis rufen sollen, ehe Du ihr Herz betrogst.«

»Es ist kein Betrug.«[306]

Severina zuckte die Achseln.

»Was soll denn werden?« fragte sie.

»Habe nur Geduld, ich muß ja einen Ausweg finden.«

Hier trat Fanny ein. Dasselbe unbestimmte Gefühl von Angst, das sie im Wagen schon empfunden, kehrte zurück, als sie die beiden allein mit Spuren tiefer Erregung im Gesicht fand. Es stieg, als Severina rasch, ohne ein Wort oder Blick an sie zu richten, hinausging.

»Was hat Severina?« fragte sie.

»Nichts. Was sollte sie haben?« fragte er befangen entgegen.

Fanny trat zu ihm, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihn tief an.

»Ich hatte Severina gefragt, wie alles gekommen und verlaufen sei mit der Krankheit des Kleinen,« antwortete er, errötend auf diesen Blick.

»Nein,« dachte Fanny, »das wäre zu schlecht – lügen – mir Aug' in Auge. Das kann er nicht.«

Aber sie sprach doch noch – all ihre Liebe lag in den schmeichelnden Lauten ihrer Stimme – sie sprach doch noch:

»Nicht wahr, Du hast Vertrauen zu mir, Du weißt, daß meine Liebe so groß ist, Dir alles zu verzeihen, nur das Verbrechen der Unwahrheit nicht?«

Ihn wandelte das Gelüst an, ein befreiendes Geständnis abzulegen, er fühlte beinahe gewiß, daß sie[307] vergeben werde und doch sein guter Engel bleiben würde. Aber seine Liebe – nein, die würde sie dann nicht mehr annehmen. Und wie ein Blitzstrahl fiel die Erinnerung an die erlebten göttlichen Stunden entzückend in sein Blut.

»Fanny,« flüsterte er aufwallend, »ich liebe Dich.«

Das war ihr Antwort und Gelübde genug. Die Wahrheit sprach aus seinen aufblitzenden Augen.

Sie senkte den Blick, der sich von Glücksthränen trübte, und legte ihren Kopf gegen seine Schulter. Sie bedachten nicht, daß sie am Fenster standen und daß, wer draußen ging, sie so sehen konnte.

Draußen aber gingen Taiß und Lanzenau, die noch vor der nahen Dämmerung einen Spaziergang machen wollten, da der Baron von der langen Wagenfahrt am Morgen ganz steif zu sein behauptete. Sie sprachen gerade von der Möglichkeit, unter den ostelbischen Grundbesitzern ein gemeinsames Vorgehen bezüglich der notwendigen Flußkorrektion anzuregen, und Taiß hielt in dem ihm eigenen wohlgerundeten Periodenbau einen Vortrag über die Frage, als habe er den ganzen Kreistag vor sich, als Lanzenau einen eigentümlichen Ausruf that.

Ein gurgelnder, halberstickter Laut kam von seinen Lippen. Taiß sah ihn entsetzt an und dachte, der Baron bekäme einen Schlag. Sein farbloses Gesicht war bläulich geworden, sein Mund stand auf, die Augen waren starr.[308]

»Was ist Ihnen, Lanzenau? Hören Sie doch!« Taiß legte den Arm um ihn.

Lanzenau atmete schwer, wollte weiter gehen, doch knickten ihm die Kniee ein.

»Das ist ja ein Unglückstag. Lanzenau – was ist Ihnen?«

»Nichts,« lallte er.

»O – da sehe ich zum Glück Fanny und Herebrecht am Fenster – sie sind auf uns aufmerksam geworden,« sagte Taiß erleichtert.

Alsbald kam Joachim durch den Saal über die Terrasse herbeigelaufen. Doch als er Lanzenau mit stützen wollte, fand dieser in übermenschlicher Bezwingung seine Kräfte wieder und wehrte dem jungen Mann mit einem solchen Blick des Hasses, daß selbst Taiß davor erschrak.

»Der arme Lanzenau,« dachte der Graf, während, auf seinen Arm gestützt, dieser mit ihm dem Haus zuschritt und Joachim, blaß und scheu, folgte, »der arme Kerl – leidet an Ischias, an schlagartigen Blutstockungen und an allen möglichen anderen mementi mori und plagt sich noch obenein mit Eifersucht.«

Fanny eilte dem Freunde schon besorgt entgegen und geleitete ihn in das Wohnzimmer, wo er sich auf die Ottomane legen mußte und von ihr mit starken Weinen, kalten Kompressen und dergleichen gepflegt wurde.[309]

Der Anfall ging schnell vorüber, aber Lanzenau gönnte sich die schmerzliche Wollust, von ihr so sorgfältig bewacht zu werden. Er lag still und lang ausgestreckt; seine Gestalt war bis zur Brusthöhe mit Fannys türkischem Shawl bedeckt, sein Monocle hing an der schwarzen Schnur seitwärts herab, in dem kleinen runden Glas, das an dem bunten Stoff lag, blinkte der Lampenschein vom Tisch her wider. Lanzenau sah mit halbgeschlossenen Augen hinüber, wo Fanny mit Taiß still Zeitungen las. Das zeitweilige knitternde Umschlagen der großen Papierfläche der »Kölnischen« war der einzige Ton, der durch das ruhige Zimmer ging. Sehr oft hob Fanny das Auge und sah aufmerksam zu dem Leidenden hinüber. Der beobachtete jeden dieser liebevollen Blicke und erregte sich immer schmerzlicher davon.

So gut, so selbstvergessen war sie in der Freundschaft, welche unermeßliche Schrankenlosigkeit mußte ihr Gefühl in der Liebe haben! Und das alles hatte sie weggeworfen an diesen flatterhaften Jüngling.

Lanzenau glaubte sich wieder ganz wohl, ganz kühl und klar; und doch irrten seine Gedanken fiebernd umher. Bald dachte er grollend an Joachim, der oben bei seiner Schwägerin saß und an den fernen Bruder schrieb, bald stellte er sich vor, was Fanny sagen würde, wenn sie von dem Verrat erfuhr. Es würde sie töten – gewiß, das würde es. Nichts würde sie so schwer treffen, nicht einmal, wenn Joachim plötzlich[310] stürbe, als sich belogen zu sehen. Immer fieberischer dachte Lanzenau darüber nach, auf welche Weise man Joachim von Fanny trennen könne, ohne daß sie erführe, warum.

Joachim mußte sterben, das stand zuletzt für Lanzenau fest. Aber wie? Ihn zum Duell fordern? Der junge Mann war der bessere Schütze, und da es um Leben und Tod ging, würde er den Gegner einfach niederschießen. Aber sterben mußte er – sterben. Um seinen Tod durfte Fanny weinen, nicht um seinen Verrat.

Er stöhnte. Sofort erhob Fanny sich und erneute den kalten Umschlag auf seiner Stirn.

»Lieber Lanzenau,« sagte sie mit ihrer zärtlichsten Betonung, »Ihre Stirn brennt, Sie sollten lieber ins Bett gehen.«

»Ja – ja,« stotterte er und versuchte mühsam, sich zu erheben.

Taiß sprang herzu und stützte ihn.

»Morgen wird es besser sein,« sagte Lanzenau heiser.

In der That schien er am nächsten Tag für den oberflächlichen Blick ganz wie sonst. Er war bei all den traurigen Vorgängen gegenwärtig, die ein Begräbnis mit sich bringt, ja, gab noch selbst Anordnungen, um die Feierlichkeit desselben zu erhöhen.

An diesem Tage traf auch, der erste seit vielen, vielen Wochen, ein Brief von Arnold ein. Es erschien[311] allen wie eine barmherzige Fügung des Zufalls, und Adrienne begrüßte es ekstatisch wie ein Zeichen von Gott; sie vergaß, daß sie sich allesamt schon lange ausgerechnet hatten, es müsse um den ersten Dezember herum ein Brief kommen.

Die junge Frau las die teure Botschaft in Fannys Gegenwart, und diese beobachtete schweigend die dunkle Glut höchster Erregung, die in Adriennens Gesicht beim Lesen stieg.

»Mein geliebtes Weib,« schrieb der Kapitän, »Du wirst bis jetzt drei Briefe von mir empfangen haben. Ich schrieb sie alle voll von Liebe und Sehnsucht nach Dir und unserem süßen Knaben. Aber sieh, seit kurzem faßt mich oft ein seltsames Bangen. Habe ich für diese Liebe denn auch so deutliche Worte gefunden, daß sie Dir offenbar ward? Habe ich nicht da mals, als wir noch zusammen sein konnten, auch gefehlt, indem ich zu sehr in mich verschloß, was doch mein ganzes Wesen füllte? Ich forderte von Dir, Du solltest meine Art vertrauend verstehen, aber um das zu fordern, hätte ich erst in Deiner Sprache mit Dir reden sollen, begreifen müssen, daß das Herz eines jungen Weibes reichlicher und ausführlicher der Neigung des Gatten versichert sein will.

Wie mir diese Erkenntnis so kam? Du erwartest vielleicht, daß ich Dir irgend ein romantisches oder gefahrvolles Erlebnis berichte, das an meiner Seele also rüttelte. Nichts dergleichen! Du weißt, es liegt[312] nicht in meiner Natur, äußere Vorgänge auf mich einwirken zu lassen, es muß sich alles von innen heraus mir entwickeln und sich mir aus meiner Erkenntnis als Wahrheit aufdrängen. So wuchs mir auch aus dem Kern des unbefriedigten Wunsches, nur einmal Dein rötliches Haar und Dein liebes blasses Gesicht zu sehen, mit tausend Zweigen die fortrankende Sehnsucht hervor. Und dann kam der Gedanke, ob Dir eine schmerzlich-liebe Ahnung wohl von meinem Sehnen etwas sage. Unser Abschied fiel mir ein. Jede herbe, sonnenlose Stunde ward wach, die wir schon erlebt. Nein – ich fühlte, meine Sehnsucht konntest Du nicht erraten, denn Du glaubtest nicht an meine Liebe.

So wuchs es weiter. Einmal sagte ich mir: ›Der Prediger auf der Kanzel wird nicht müde, den Glauben zu verkünden; der Lehrer in der Schule hat die nimmerlästige Geduld, Unwissende zu belehren; tausendfältig müssen wir in unserem Beruf oder in unseren Verpflichtungen als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft gleichgiltige Dinge wieder und wieder sagen, und ich war zu stolz, Dir das Wichtigste, das Heiligste so lange zu wiederholen, bis Du es glaubtest?!‹

Mein Weib – ich liebe Dich; und wenn ich erst bei Dir bin, werden auch meine Lippen die rechten Worte finden, es Dir zu verkünden. Früher, als wir scheidend dachten, kehre ich heim. Im Frühling wird die Besatzung abgelöst. In den beifolgenden Tagebuchblättern findest Du alles Wissenswerte über unsern[313] hiesigen Aufenthalt; sie sind zum Mitteilen für Fanny Förster und meinen Joachim bestimmt, den ich mit Freuden bei euch weiß. Mein kleiner Joachim kann noch nichts von mir empfangen, weder Mitteilung noch Gruß; aber Du, mein Weib, Du drücke ihn an Dein Herz und liebe ihn doppelt.

Meine Adrienne – wirst Du mir glauben, mich verstehen? Noch einmal sage ich Dir: Ich liebe Dich.«

Dieses Blatt kam aus Sansibar und trug das Datum des 27. September. Es war an demselben Tag geschrieben, an welchem damals Adrienne ihren leidenschaftlichen Brief mit dem Ruf der Liebe und Reue an ihn gerichtet hatte, und dieser Brief mochte auch gerade in diesen Tagen in seine Hände gekommen sein.

Weinend wiederholte Adrienne die Weisung ihres Gatten, das Kind an ihr Herz zu drücken, und Fanny hatte alle Mühe, sie zu beruhigen.

Der Kummer und die Thränen der jungen Frau ängstigten Fanny aber nicht, es war eine gesunde und natürliche Art, den Gram zu äußern. Und unter den Thränen sah Fanny schon die Morgenröte eines künftigen, wirklichen und dauernden Glücks für Adrienne und Arnold von Herebrecht.[314]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 298-315.
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