Fünfter Auftritt.

[20] Baron von Holbach. Doris Quinault. Saint-Lambert.


QUINAULT im Gespräch. Ich versichere Sie, Baron, es schwebt ein neues Gewitter in der Luft von Paris, man weiß nur nicht, wo's diesmal einschlagen wird. Haben Sie gesehen, wie sonderbar sich Grimm benahm? Auch die Epinay, die sonst nie fehlt, sehe ich heute nicht. Auf mein Wort, es geht in Versailles etwas vor, ich betrüge mich nicht.

HOLBACH. Kein Wunder, daß die Vertraute der Königin einen feinen politischen Instinkt hat. Nun, was dort vorgeht, wird man, denk' ich, zeitig genug erfahren. Da aber von Grimm die Rede ist, muß ich nun doch wohl eingestehen, daß er nachgerade auch mir lästig zu werden anfängt. Seit Rousseau fort ist, maßt er sich eine dogmatische Suprematie an, die täglich drückender wird. Jean-Jacques mag so schroff und mißtrauisch sein, wie er will, er ehrt doch das Recht der freien Meinung überall.[20]

QUINAULT. Und das liebe ich eben! Es ist gewiß, daß man bei ihm weniger Gefahr läuft, seine Individualität zu verlieren, als bei Grimm, der alles mit seiner Allwissenheit verschlingen will.

LAMBERT. Das habe ich Holbach längst gesagt, aber er und Diderot wollten nicht hören; nun folgt die Strafe.

QUINAULT. Daß er jetzt sogar Rousseau öffentlich schmäht, da er im Exil ist und sich nicht verteidigen kann, ist eine Erbärmlichkeit. Beobachten Sie ihn nur! Obgleich Madame de Pompadour kränklich ist, kann sie bei der Schwindsucht lange genug leben, um dem Liebhaber ihrer treuen Epinay eine Stellung zu geben, in der er den Philosophen wegwirft und die Philosophie verfolgt.

HOLBACH. Ich denke doch, schöne Doris, Sie sehen bei ihm zu schwarz, zu parteiisch. – Apropos, was spricht man sonst Neues in der Stadt?

LAMBERT. O, nicht viel, einige Liederlichkeiten aus Versailles abgerechnet. Die Generation tanzt Menuett auf ihrem Grabe, und die klugen Leute warten ab, die allgemeine Taktik der Parteien.

QUINAULT. O, daß man warten muß! – Ist das Jahrhundert denn nicht entwürdigt genug, soll man abwarten, bis es noch entarteter wird? Ich möchte wohl wissen, was die Teile gewinnen können, wenn das Ganze zugrunde geht?!

HOLBACH. Um Gottes willen keine historischen Seifenblasen! Die Menschheit ist unsterblich, das ist mein Trost. Er sieht nach der Uhr. Doch wir haben lange genug auf Diderot gewartet, es ist Zeit, die Gesellschaft zum Tee zu bitten. Er klingelt.

LAMBERT. Und habt ein Auge auf Grimm!

BARJAC kommt durch die Mitte.


Quelle:
Albert Emil Brachvogel: Narziß. Leipzig [o.J.], S. 20-21.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Narziß
Narziß