Erster Auftritt.

[135] Granville. Miß Amalia.


GRANVILLE. Wie glücklich sind wir, meine Schwester! Nach einer so langen Entfernung, befinden wir uns wieder so nahe bey unserm bedrängten Freunde.

AMALIA. Hast du ihn bereits gesehen?

GRANVILLE. Ich sahe ihn vorhin, ohne von ihm bemerkt zu werden. Er eilte in den Garten an diesem Hause. Doch wie sehr – –

AMALIA. Sage mir vorher, ob wir fürchten müssen, daß ihm unsre Ankunft, bevor es zu unserm Vorhaben bequem ist, bekannt werden wird?

GRANVILLE. Ich fürchte nichts. Ich glaube genugsame Mittel darwider vorgekehrt zu haben.

AMALIA. So hast du den unglücklichen Klerdon gesehen? Er beleidigte mich, – dennoch kann ich für sein Schicksal nicht unempfindlich seyn.

GRANVILLE. Deine Empfindungen sind gerecht, er war für dich bestimmt. Ein gleiches heiliges[135] Band verknüpfte ihn mit mir; er war mein Freund. Trauriger Gedanke! vielleicht haßt er mich itzt, da ich ihn zu retten komme. Als ich ihn sah, – wie wahr hat uns Truworths Brief seinen Zustand geschildert! – wie verändert war er! Nicht mehr der blühende Jüngling, den die Gesundheit, die Freude und Lebhaftigkeit überall zu begleiten schienen. Sein verfallnes Gesicht war in kranke Schwermuth und finstern Verdruß eingehüllt, seine wankenden Schritte verriethen Angst und Entsetzen. Der strafende Arm des Himmels muß über ihn schon ausgestreckt seyn; er büsset bereits – – – du weinst, Schwester?

AMALIA. Du kennst mich, und es befremdet dich, mich bey seinen Leiden gerührt zu sehn? Unglücklicher Jüngling! vielleicht sind dieß die Boten deines nahen Verderbens.

GRANVILLE. Laß uns beßre Hoffnung fassen. Vielleicht wird diese Schwermuth zur Quelle seines Glücks. Was ist der Zweck unsrer Reise? Ist es nicht einen liebenswürdigen jungen Menschen der Tugend und Religion wieder zuzuführen, dessen Herz dieser Bemühung nicht unwürdig ist? Und könnte wohl etwas unserm Vorhaben günstiger seyn,[136] als wenn das in ihm wieder entfesselte Gewissen uns den Weg dazu bahnte? Klerdon ist kein Unmensch. Ein Bösewicht hat ihn verführt, allein seine Verblendung kann nicht ewig währen.

AMALIA. Du entzückst mich, Bruder; ja, mein Herz überläßt sich dieser liebkosenden Hoffnung. Ich werde den Klerdon wieder tugendhaft, wieder getreu sehn; ich werde ihn ohne Tadel wieder lieben können: Mit welcher Freude werde ich mein Vermögen mit ihm theilen! Sein Unglück, das ihm alles, nur mein Herz nicht geraubt hat, macht ihn mir werther. Ich werde ihm also seine Ruhe, seinen Wohlstand, seine Freude wiedergeben können. Entzückender Gedanke! – Aber vielleicht liebt er mich nicht mehr; – sollte dieses seyn – – – und warum zweifle ich? –

GRANVILLE. Fürchte nichts! Er wäre deiner unwürdig, – ein Ungeheuer, könnte er dich vergessen. Eine Liebe, wie die seinige, kann durch lärmende Ausschweifungen übertäubt, niemals ganz unterdrückt werden. Du selbst hast vor deiner Flucht aus London häufige Merkmale davon gehabt; – doch itzt entferne dich. Ich habe den[137] Klerdon um diese Zeit hieher rufen lassen. Ich werde ihn rühren. Der unglückliche Fall, von dem ich ihm Nachricht bringen muß – –

AMALIA. Sollte ihn auch diese Nachricht zu sehr niederschlagen? Sie ist schrecklich; ich kenne sein zärtlich Gefühl, und überdieß, seine Schwermuth – – – ach! sein Herz braucht keine neue Wunden! Schone ihn, setze ihn nicht in Verzweiflung.

GRANVILLE. Deine Neigung verführt dich. Einen Freygeist zu rühren, – Thränen entfallen mir, da ich dieß von meinem besten Freunde sagen muß, – kann nichts schrecklich genug seyn. – Entferne dich nur, und überlaß meiner Freundschaft diese Sorge. Du weißt, ich bin nicht gemacht, jemand grausam zu begegnen.


Amalia geht ab.


Quelle:
Joachim Wilhelm von Brawe: Der Freygeist, in: Trauerspiele des_–, Berlin 1763, S. 135-138.
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