1082. An Johanna Keßler

[77] 1082. An Johanna Keßler


Wiedensahl 18. Sept. 1896.


Geliebte Tante!

Bei dem trüben Miesterwetter seit nunmehro sechs Wochen darf ich mir ja wohl das Vergnügen machen, mich wenigstens schriftlich mal ein paar Augenblicke nach einer Himmelsgegend zu wenden, die immer sonnig für mich ist. Wie geht es denn da? Was ist gewachsen im Garten bei Haus und auf der Ginheimer Höh? Sind die Reisekleider schon fertig für den herbstlichen Flug an die See oder hinauf hoch oben in die Berge? Es wäre brav und nett, wenn ich das bald mal von Ihnen erfahren thät per Feder, Tinte und Postpapier, denn zunächst werd ich mich nicht eigenäugig an Ort und Stelle davon überzeugen können, sondern erst so etwa im November, denk ich, wenn mir dann nichts Hinderliches zwischen die Räder kommt. Jedenfalls, ob's was wird oder nicht, freu ich mich schon im voraus darauf Sie wiederzusehn.

Im August unterbrach ich mein einsam beschauliches Vorhandensein allhier im gewohnten sehr engen Bezirk durch einen Aufenthalt von drei Wochen zu Hunteburg an der Hunte bei Osnabrück, allwo mein Neffe Otto ein kleines behagliches Hauswesen hat. Besonders ergötzlich war mir's da, einen niedlichen Martin, der eben ein Jahr alt ist, etwas näher zu besichtigen. Wie so ein anfängliches Menschenkind sich benimmt, wie es ißt und trinkt und herumkrabbelt und schläft, was es für Gesichter schneidet, was es für Töne ausstößt, je nach Freud oder Unwillen, schien mir äußerst bemerkenswerth. – Und ein nützliches Hühnervölkchen, schwarz, weiß und bunt, gefräßig und neidisch, aber ganz pünktlich im Eierlegen, war auch zu sehn, und junge Hähne, die kämpften, und eine Glucke mit Küchlein. – Zwar regnen that's viel. Aber doch erschlichen wir hier und da einen gnädigen Tag, um Partiechen zu machen, zu Fuß und zu Wagen, durch die Wiesen dahin, an den Gehöften vorbei, die schön bewaldeten Hügel hinauf, und einmal sogar an den Dümmersee, ein paar Stunden entfernt, auf dem wir im Segelboot lustig umherschweiften.

Zu Anfang October soll in Leer die Hochzeit des Neffen Adolf gefeiert werden. Damit hätte denn meine gute Schwester all ihre drei Söhne unter den ehrsamen Pantoffel gebracht. –

Inzwischen wird's Herbst. Die Felder stehen leer, der wilde Wein färbt sich roth, die Rosen blühen spärlich ohne rechten Erfolg.

Und wie gesagt, liebste Tante, es wär löblich lieb und wünschenswerth, wenn Sie nachgerade mal wie der was schreiben könnten an Ihren getreuen

Onkel Wilhelm


der Sie und Alle drumherum zehntausendmal grüßen läßt.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 77.
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