1200. An Nanda Keßler

[132] 1200. An Nanda Keßler


Wiedensahl 5. Juli 1898.


Meine liebe Nanda!

Ich danke Dir auch für deine zwei freundlichen Briefe; der letzte von zuhaus, der erste aus der Stadt deiner Sehnsucht, die du nun endlich besichtigt hast und zwar, wie ich sehe, zu allerhöchst deiner vollen Zufriedenheit. Zufällig mußt ich mich ebendamals mit der Lectüre von Zola's Paris beschäftigen, einem Buche, von dem ich wohl annehmen darf, daß es nicht unrichtig ist, zumal Daudet so ziemlich daßelbe sagt. Die Moral davon lautet: Nicht Wohlthäterei, sondern Gerechtigkeit. Sehr brav! Nur förcht ich, so lange das "Eingeweide der Menschheit" daßelbe bleibt, so lange wird's nichts mit der besagten Gerechtigkeit.

Du hast versucht, einen jungen Britten seiner Kirche zu entfremden. Ich denke, ein Engländer ist viel zu stolz auf seine heimathlichen Gewohnheiten, um dergleichen Zureden ein geneigtes Ohr zu schenken. Was mir drollig dabei vorkommt, ist mal wieder die Beobachtung, daß oft grad die vermeintlichen Kraftgeister so schwach sind, Proselyten machen zu wollen, wie der beste Jesuiter.

Über die auf den ersten Blick immerhin etwas unliebsame Thätigkeit der Zeit, worüber du dich beklagst, möcht ich, bei näherer Betrachtung, lieber nicht unfreundlich urtheilen. Was lebenslustig in der Tiefe wühlt, dem geschieht ganz recht, daß oben Platz gemacht wird, damit es auch erscheinen, sich täuschen und ärgern kann, wie's die Gelegenheit mit sich bringt.

Einstweilen wandle ich beschaulich im Garten herum; am liebsten gewöhnlich bei Sonnenschein, doch zuweilen auch gern bei Regen, wenn er grade sehr nöthig ist. Bald will ich mal Mechtshausen besehn, in der Nähe des Harzes, wohin der Neffe aus Hunteburg demnächst versetzt wird, eine Stelle, die gegen die jetzige mancherlei Vorzüge hat.

Leb wohl, liebe Nanda! Hoffentlich bist du, sind deine Kinder und sonstigen Angehörigen gesund und munter.

Mit vielen herzlichen Grüßen Dein alter

Onkel Wilhelm.[132]

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 132-133.
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