1232. An Nanda Keßler

[145] 1232. An Nanda Keßler


Mechtshausen 30. Mai 1899.


Meine liebe Nanda!

Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstage! Möge es dir gut gehn im besten Sinne des Wortes!

Für die netten Photographien und deine nachträglichen Wünsche sag ich dir freundlichen Dank. Als Gratulant hab ich es beßer als du. Da ich nicht weiß, wann du geboren bist, brauch ich mich nicht zu entschuldigen, wenn ich vorbei schieße. Ja, im Fall ich es ganz versäumte, bin ich doch längst bescheiden genug, um überzeugt zu sein, daß eine derartige Vergeßlichkeit meinerseits von Niemand besonders schmerzlich empfunden wird. Und dann, mehr mystisch genommen: Gute Wünsche, wenn sie überhaupt wirksam und, wie sich's gehört, immer vorhanden sind, werden selbst unausgesprochen, gewißermaßen elektrisch durch das Innere aller Dinge hindurch, tagtäglich, also auch zu jedem Geburtstage, unfehlbar an den Ort gelangen, wohin sie gehören. – Nur schad! Der sogenannte Mensch im allgemeinen ist so "thatsächlich" angelegt, daß er nur das für wirksam hält, was er gröblich bemerken kann.

Nach deinem Aufenthalt im Süden wird dir der deutsche Frühling wohl etwas grämlich erscheinen. Bei uns hier stehen allerdings das Feld und der Wald im vollsten Grün; aber weil es noch beständig kühl und naß ist, wollen sich die empfindlicheren Kräuter nicht recht muthig entfalten.

Leb wohl, liebe Nanda! Die besten Grüße an dich, deine Kinder und die liebenswürdigen Nachbarsleute von

deinem alten

Onkel Wilhelm.[145]

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 145-146.
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