1251. An Nanda Keßler

[154] 1251. An Nanda Keßler


Mechtshausen 24. Dec. 1899.


Meine liebe Nanda!

Der reizende Vogel mit seinem hübschen Drumherum ist richtig angekommen und hat mir Freud gemacht. Sei bedankt für dein freundliches Gedenken.

Heut Abend seid ihr wohl alle versammelt im Nachbarhaus No 1, wo vermuthlich jeder das kriegt, was er sich wünscht – oder wenigstens etwas davon – denn zu zahlreich sind die Wünsche der Menschenkinder, um sämtlich erfüllt zu werden in dieser Schule der Entsagung, die sich Welt benennt.

Hier wird in der besten Stube der Baum geputzt. Für Martin wird wohl Hauptgegenstand ein stolzer Wiegenschimmel sein, für Ruth eine Puppe mit voller Ausstattung für Tag und Nacht. Ein Schlitten, der erwartungsvoll dasteht, hofft, daß der Schnee, von dem wir die Menge haben, noch eine zeitlang liegen bleibt, damit die Kinder auch fahren können. Die Erde sieht so frisch und sauber aus, wie eine weißgekleidete Festjungfrau. Leider ist die Luft trüb geworden, der Wind bläst von Südwest, und heut sind nur -4° R. statt der 17 von neulich. – Daß demnächst ein neues Jahrhundert beginnt, scheint allgemein Volksaberglaube zu sein. Daher hat wohl auch die hochweise Obrigkeit nicht so unrecht, auf den Scherz einzugehn. Auch der heilige Vater will, scheint's, noch bei seinen Lebzeiten profitieren von dem Jubelschwindel. So bring ich denn das Opfer meines Intellekts und feiere mit. Unsere Bowle aber machen wir erst, wenn unser Pfarrherr die vielen Festpredigten hinter sich hat, also nicht Sylvester, sondern am Abend des 1ten Jan. 1900.

Leb wohl, liebe Nanda! Bleib im kommenden Jahr mit deinen Kindern recht froh und gesund!

Herzliche Grüße an euch Alle von deinem alten Onkel

Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 154.
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