1269. An Grete Meyer

[163] 1269. An Grete Meyer


Mechtshausen 22. Mai 1900.


Liebe Grete!

Über deine melodramatischen Erlebniße hab ich mich gefreut, da ich doch eigentlich neidisch sein sollte, weil ich mich ohne Musikbegleitung behelfen muß.

Also neulich in Göttingen nahm ich mir am Bahnhof sogleich eine Droschke und zackelte über die wohlbekannten Berge, bei Sonnenschein, durch neugrünen Buchenwald, an blühenden Gärten vorbei, nach Ebergötzen, das ich vor zirka tausend Jahren zum ersten Male erblickte. Die Gebäude, darunter das Pfarrhaus, sahen mir aus, wie ehedem, während die einstigen Bewohner rutschweg verschwunden sind. Mit meinem alten Freunde unterhielt ich mich lebhaft, mehrmals bis zwei drei Uhr in der Nacht. Eines Tages machten wir auch eine hübsch weite Fahrt hinter dem Hengstberg herum, über Niedeck, ein Name, der dich erinnern wird an das traurige Schicksal eines deutschen Poeten.[163]

Und eh ichs vergeße: In der ebergötzener Mühle lebt ein kleiner Hund, genannt Molly. Vor einigen Jahren ist sie Amme gewesen bei fünf Kätzchen. Zwei davon, die übrig geblieben, haben bereits Enkel. Aber jedesmal, wenn Molly der Jungen beraubt wird, stellen sich die alten Katzen wieder als Säuglinge ein. Sie suchen sich dann bei der rührenden Pflegemutter unter anderm dadurch beliebt zu machen, daß sie sich umdrehen und ihr mit dem Schwanz sanft streichelnd übers Gesicht fahren.

Acht Tage blieb ich fort. Kaum nun bin ich zuhaus, so blüht mir aufs neue das Reisen, und ich hab doch so wenig Lust, mich drängeln zu laßen von Mitmenschen, die ich nicht kenne.

Morgen denkt Tante zurück zu kehren. Adolf, der sie bringen will, muß leider schon den nächsten Tag pflichtschuldigst wieder nach Verden sausen.

Groß und Klein bei uns hat zur Zeit viel Spaß an zehn "reizenden" Italienerküken. Außerdem sitzt in der andern Ecke des Stalles ein Puter auf vierundzwanzig Eiern. Das kann flecken, wenn's schlumpt.

Sonst sind wir traurig wegen der entsetzlichen Dürre. Tagtäglich prophezei ich Regen her, aber vergebens. Ich prophezeie weiter in der Hoffnung, daß es schließlich doch eintrifft.

Mit den herzlichsten Grüßen von uns allen

Dein getr. Onkel Wilhelm.


N.B. Vermuthlich reis ich erst nach Frankfurt und dann zu Pfingsten nach Hattorf.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 163-164.
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