1435. An Johanna Keßler

[219] 1435. An Johanna Keßler


Mechtshausen 24. Febr. 1904.


Liebste Tante!

Mir kommt es vor, als wären mindestens tausend Jahre vergangen, seit ich zuletzt was von Ihnen hörte. Wie befinden Sie sich? Wie geht es der Letty? Wandeln Sie fleißig über den grauen Kies hin im Garten? Zeigt der Frühling schon merkliche Lebenszeichen? Sie wohnen ja südlicher als wir, aber selbst bei uns haben die Schneeglöckchen bereits Blüthen getrieben, während die Narzißen, Hyacinthen, Krokus und Tulpen, die uns seit Wochen im Zimmer ergötzten, nun Abschied nehmen.[219]

Die winterliche Thätigkeit draußen, das Rigolen, Sand- und Kalkfahren, das Beschneiden und Aussägen der Obstbäume, ist glücklich beendet. Im März kann dann hoffentlich der eigentliche Angriff erfolgen.

Mit dem Wetter bin ich recht zufrieden seither; heute freilich fällt wirbelnder Schnee, und bis Ostern sind kalte Füße nicht ausgeschloßen.

Neulich, vor 14 Tagen, war mein Neffe ganz arglos unten in's Land gereist, um ein verwandtes Pärchen zu trauen. Als er zurückkehrte fand er zu seiner Überraschung ein klimperkleines Mädchen vor, das gestern getauft wurde und von nun an Ursula heißt.

Herzliche Grüße, liebste Tante, an Sie und die Ihrigen. Erfreun sie bald durch einige Zeilen

Ihren alten getreuen

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 219-220.
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