1481. An Letty Keßler

[231] 1481. An Letty Keßler


Mechtshausen 31. Dec. 1904.


Liebe Letty!

Aus der schönen warmen Weste heraus, die mir das Frankfurter Christkindel schenkte, sag ich Dir freundlichen Dank für den Brief. Es freut mich, daß es der Mama wieder beßer geht. Ein ernstliches Unwohlsein, scheint mir, war es doch nicht, sondern mehr eine von den Belästigungen, auf die Jeder gefaßt sein muß in dieser verzwickten Welt. So hoff ich denn, falls es das Schicksal gestattet, den nächsten Frühling euch wieder zu finden in alter Gemüthlichkeit. Alle Bäume wird der Hühr ja nicht entwurzeln, denn den Schatten der neuen, die er pflanzt, werd ich, für diesmal wenigstens, kaum noch erwarten können.

Vorerst, als Vorspiel zum Jahr neunzehnhundertfünf umwirbelt uns heftiges Schneegestöber. Unsere letzten Staare sind weggezogen – nach Frankfurt schwerlich – bekanntlich hausen da keine. Doch las ich neulich, vor Jahren hätten mal ausnahmsweise im Herbst viele Tausende in einem Bockenheimer Parke regelmäßig übernachtet.

Bei uns sind nur die Meisen geblieben. Im alten Birnbaum vor meinem Fenster baumelt ein Futternapf, gefüllt mit Talg und Samen. Die größeren Sonnenblumenkerne werden heraus geholt auf einen Seitenast, mit dem Fuß gehalten und mit dem spitzen Schnabel zerhämmert. – So was zu sehn, macht einem gewißen Kindskopf noch immer Vergnügen.

Leb wohl, liebe Letty! Herzliche Grüße an dich, die Mama, an Hugo und Harry von deinem alten

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 231.
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