1515. An Grete Meyer

[241] 1515. An Grete Meyer


Mechtshausen 16. Oct. 1905.


Liebe Grete!

Wieder mal also hätt ich einen Sommer überher gekriegt; siebzig, sollte man meinen, wären mehr als genug. Ist das unbillig im Verhältniß zu andern, die weniger kriegen? Ich weiß nicht. Zehn gute können mehr sein, als hundert schlimme. Fortwährend hinter den angenehmen Erwartungen schleichen die unangenehmen Möglichkeiten in überwiegender Menge, um grad, wenn man recht vergnüglich sein möchte, sich störend darein zu mischen. Die sogenannten schönen Jahreszeiten, der letzte Frühling, der letzte Sommer, waren leider ein Exempel dafür. Nun sind sie glücklich hinabgerutscht in die Vergangenheit, in's Reich der Träume, in's Wesenlose. Nein, doch nicht. Das War, als Mutter des Ist, wirkt unsterblich in Ewigkeit. Ein wunderliches Wort das; eins von denen, die wir dann gebrauchen, wenn unser Verstand still steht vor der unübersteiglichen Mauer, die das Gedachte von dem Undenkbaren scheidet. Ja, und die unangenehmen Möglichkeiten sind ein seltsames Völkchen. Wenn auch nur ein paar zur Wirklichkeit werden, gleich erscheinen soundsoviel andre wenigstens als Spukedinger und schrecken hohnlachend die Phantasie.

Unser Herbst bis jetzt ist barsch zu nennen. Es hat geregnet und immer geregnet; zur Freude der Gänse und Enten; nicht zur Freude der Hühner; zu unserer ebenfalls nicht.

Im Gemüsegarten hat alles sich ausgelebt, bis auf den Kohl und die Krupbohnen, die spät gepflanzten, von denen man hofft, daß sie sich demnächst zu Puffer gesellen. Herr Probst lukt eben die Bohnenstangen aus und pflückt die trocknen Schoten ab, deren es viele giebt in diesem Jahr. Der Ertrag der Äpfel dagegen ist spärlich gewesen. Aber es sind welche zugekauft; infolgedeßen gab es heut mittag Pastorentorte.

Die Schornsteine, wie du weißt, auf dem Pfarrhaus, hingen längst drohend und schief. Neulich waren Maurer oben, um sie grade zu richten. Über durch's Dach geschobene Balken, um sie herum, hatten sie schöne Belwederes gebaut. Martin, natürlich, war häufig oben und hißte sein Fähnchen sogar.

Heut ist die neue Schule geweiht. Schon lange vorher waren die Kinder in lebhafter Erwartung. Im Zuge gingen sie mit; unter Elsens Führung auch Anneliese. Kaffee mit Kuchen im Wirthshaus, und Spiele und Tanz beschließen das Fest. –

So! Viel ist's nicht, liebe Grete, was ich dir hiermit berichtet habe; aber ich wollte dir doch gern mal wie der was sagen und mich bedanken für deinen letzten guten Brief.

Sei herzlich gegrüßt vom alten

Onkel Wilhelm.[241]

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 241-242.
Lizenz: