1521. An Nanda Keßler

[243] 1521. An Nanda Keßler


Mechtshausen 14. Dec. 1905.


Meine liebe Nanda!

Deinen Brief hab ich mit herzlicher Theilnahme gelesen. – Was kann ich viel sagen dazu?

Kein Grübeln des Gehirns, kein Experiment der Spiritisten, kann Aufschluß geben über den Zustand der Abgeschiedenen. Das Thor ist zu fest. Vergebens, so lange wir in dem Zwange der Zeit und des Raumes leben, rütteln wir dran, um einen Blick in das Jenseits zu thun.

Und den Verlust, wie ertragen wir ihn?

Der Eine, indem er in Zerstreuung sich stürzt, verliert drin das Beste, was ihm noch übrig blieb.[243]

Ein Anderer meint, er hätt's nicht verdient, wird grämlich, wird unzufrieden mit sich und der Welt.

Die Edleren dagegen vertiefen sich, finden Trost in der Schrift, und da ihre Todten, außer treuem Gedenken, nichts mehr bedürfen hienieden, so wird thätige Liebe frei.

Aber die Überlieferung, sagst du, ist unzuverläßig. Ganz recht! Und doch, ich bin überzeugt, daß gewiße heilige Worte unverändert von Mund zu Mund durch die Jahrhunderte kommen. Sie dringen noch heut an die Herzen, als ob sie eben gesprochen wären. – Das ist mir genug. Mir. – Wer Lust hat zu zweifeln, mag sehn, wie er fertig wird.

"Die lebhafte Frage nach den Ursachen ist äußerst schädlich", sagt Göthe. – Ich nahm ihn kürzlich mal wieder zur Hand. Prosaische Aufsätze aus frühster und spätester Zeit. Dort sprudelt es durch und über einander, hier dehnt sich's in behaglichster Breite – immer in Fülle – etwas byzantinisch mitunter. Thut nichts! Wer hört nicht gern zu, wenn Göthe redet, wovon es auch sei.

Tausend Grüße, liebe Nanda, an dich und alle Lieben in der Wiesenau

von deinem alten

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 243-244.
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