376. An Johanna Keßler

[175] 376. An Johanna Keßler


München 19 Jan 77


Liebe Tante!

Zu einem ausführlichen Briefe, den ich mir vorgenommen, kann ich mich noch immer nicht recht sammeln; man fêtirt mich mehr, als ich's verdiene, und noch keinen Abend bin ich leider so früh nach Hause gekommen, daß nicht der Herr Portier bereits im tiefsten Schlummer gelegen hätte. – Heute Abend giebt Seitz Gesellschaft. Morgen Abend ist Ball, wo denn der neue Frack gar hübsch und gründlich eingewärmt werden soll. – Bei Lenbach im Atelier geht's immer ein und aus. Ich habe da unter Andern auch Heise und Siebold von allen Seiten besehen können. (Es wird Otto intereßiren, daß Siebold grade Krebse aus dem Salzsee beobachtet, bei denen Parthenogenesis nach weiblicher Richtung vorkommt.) Wie's da nun mit der eigentlichen Arbeit aussieht, das ahnen sie wohl. Was ich da hinschmiere, findet allerdings bei Bekannten guten Absatz; zu dem, was ich möchte, werd ich aber wohl schwerlich kommen, denn wie bei Ihnen im Pompejanum, so laßen sich auch hier die nöthigen Modelle nicht gut herein schaffen. – Ateliers sind äußerst rar; nur ein paar ganz neue feuchte wären zu haben, die man aber vermuthlich mit Gevatter Tod zu theilen hätte. – Gleich den ersten Tag traf ich zwei alte Bekannte, die sehr spärlich über den Ohren aussahen; sie sagten, sie hätten den Typhus gehabt. Lenbach ist um seine kleine Nichte in Sorgen, bei welcher Morgen die Krisis erwartet wird. – Übrigens haben wir jetzt das schönste kalt-sonnige Wetter. Mit dem Nebel und Regen sind denn auch die schwarzen Krähen davongeflattert, die mich wie wahnsinnig umkrächzten.

Ich denke so etwa 3 Wochen noch hier zu bleiben und meine Wohnung im Hôtel zu behalten.

Mit herzlichen Grüßen

Stets Ihr

W. Busch.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 175.
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