501. An Hermann Levi

[214] 501. An Hermann Levi


Wiedensahl 13. Dec. 1880.


Lieber Levi!

Der kalte Winterwind bläst den Regen durch die sausenden Bäume. Noch immer geh ich rauchend, den Schopenhauer in der einen, den Darwin in der anderen Tasche, den Strom entlang auf dem muthmaßlichen Wege an's Meer, wo vielleicht das Schiff liegt, welches, wie man sagt, nach den seeligen Inseln segelt. »Die Heiligen sind schon dort«, sagt Schopenhauer. Da aber der Wille untheilbar ist, so hätten sie mich nothgedrungen mitnehmen müßen, und ich wäre schon »dort, wo ich nicht bin«. Darwin sagt: »Es giebt eine Entwicklung«. Nehmen wir an von minus X über Null zu plus X. Dann säße der Mensch auf No 0, während der Affe etwa auf – 1 herumkletterte. Der Fortschritt von – 1 bis 0 ist ersichtlich: die Erkenntniß, daß diese Welt ein Irrthum, dämmert auf. Wir reden bereits von Tod und Erlösung recht hübsch und erbaulich; dann gehn wir in's Wirthshaus, in's Theater, zum Liebchen, oder bleiben als gute Hausväter daheim und kosen mit unseren Weibern. Unsern Fleischbedarf liefert der Metzger. Wir machen auch Gesetze, gründen Kirchen, Eisenbahnen, Kranken-, Waisenhäuser und mehr dergleichen. – Gut! – Inzwischen stirbt Alles dahin, was auf Null gewesen und wird von + 1 absorbirt, wo es, im Lichte neuer Intellecte, als sein eigener Erbe, den alten gemischten Nachlaß sofort wieder antritt. Es gab einen Fortschritt bis Null. Als gute Optimisten hoffen wir natürlich, daß es so weiter geht. Die Kraft der Tiefe: der Drang zum Variiren, thun auch ihr Theil. – Kurz, + 1 ist gescheidter und beßer als 0. – Vorwärts. – Hier ist bereits + 10000000. Viel Kopf, wenig Leib. Keine Eckzähne, keine Knöpfe mehr in den Ohrmuscheln. Nahrung: Gemüse. Vermehrung: wie bisher. Der dicke Kopf kann den dünnen Leib noch immer nicht zur Raison bringen. – Weiter! – Plus zehn Milliarden. Nahrung: Luft. Vermehrung: durch phlegmatische Knospenbildung. Der Mensch von No 0 ist längst verschollen. – Schluß! – + X. Fast nur Kopf. Kaum etwas Wille. Vermehrung: keine. Die Intellecte, blasig herum schwebend, durchschauen Alles gründlich. Das Bischen Wille verneint sich leicht, und Alles verklingt, wie wir Musiker zu sagen[214] pflegen, in einem versöhnlichem Accorde. – Wehe, wehe! – Wer jemals das Auge der energischen Bestialität hat blitzen sehn, den beschleicht eine grauenvolle Ahnung, daß ein einziger sonderbarer Halunke auf dem Uranus die Erlösung aufhalten, daß ein einziger Teufel stärker sein könnte, als ein ganzer Himmel voll Heiliger. Haben die Christen recht? Kommen die Unverbeßerlichen am Schluß in die Hölle? Kann der Einzelne eine Anleihe machen im Betrag seines Antheils an der gemeinsam contrahirten Schuld, das Geld auf den Tisch legen und sagen: Adieu, auf Nimmerwiedersehn?!

Drüben, am andern Ufer des Stroms, steht der heilige Augustinus. Er nickt mir ernsthaft zu: Hier liegt das Boot des Glaubens; Gnade ist Fährmann; wer dringend ruft, wird herüber geholt. – Aber ich kann nicht rufen; meine Seele ist heiser; ich habe eine philosophische Erkältung.

Und Du, lieber Freund? Du inhalirtest, als ich Dich verließ. Hoffentlich hat's geholfen.

Unsern guten Freundinnen in der Hildegardstraße und auch an Frau Cosima, wenn du ihr schreibst, meine ergebensten Grüße!

Dein

Wilh. Busch.


501. An Hermann Levi: Faksimile Seite 1
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501. An Hermann Levi: Faksimile Seite 4
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Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969.
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