628. An Hermann Levi

[260] 628. An Hermann Levi


Januar 1885.


Lieber Levi!

Dein herzlicher Sylvesterbrief erwischte mich in Wolfenbüttel. Es freut mich, daß Du, wie's Geraßel mal nachließ, so freundlich an mich dachtest. Mein Wünschen und Denken für Dich wirst Du zu der Zeit auch gewittert haben; und bei diesem luftigen Nothbehelf wird's zunächst wohl wieder sein Bewenden han, da meine Ellenbogen für ein größeres Gewühl nicht scharf genug sind. –

Inzwischen besuchte ich meinen Freund in der Mühle zu Ebergötzen. Das Dörflein ist mir wie eine Chronik seit meinem neunten Jahre. Diesmal fiel's mir bedenklich auf, daß ich nun schon drei Kirchhöfe daselbst kenne: den alten, den neuen, den neuesten. – Der Letzte, der damals auf den alten kam, war der alte Danne. Bettelvogt mit amtlichem Spieß bewehrt. Grauer Stoppelbart. Aß reihum. Schlief auf Heuböden, in Pferdeställen, im Gras. Schnarchte laut dabei, wenn er den Athem einzog, und pfiff leise mit gespitztem Mund, wenn er ihn wieder ausstieß. Eines warmen Nachmittags fanden wir ihn tot unter dem Sommerbirnbaum; Speer im Arm; Mund offen; zwei Fliegen krochen ein und aus. Vom Pfarrhaus, wenn ich zu Bett ging, bei Mondschein, unten auf dem Kirchhof, in der Brenneßelecke der Armen, konnt' ich sein Grab sehen. –

Eine junge blonde Frau (das einzige Buch, was ich von Tieck gelesen, grün gebunden, gehörte ihr), sie kam zuerst auf den neuen. Die Zeit verging. Der Lagerplatz füllte sich. Jüngst als der Totengräber wieder von vorn anfangen wollte, brachte er per Spaten den Rest jener Frau herfür. Das blonde Haar war noch gut; sonst nichts wie Knochen. – Drauf, nothgedrungen, ward der neueste Kirchhof eingezäunt. Ein hochbetagter Bauer; 60 Jahre lang ein Kratzer und Schaber; dann endlich sich selbst belohnend durch den täglichen Genuß vieler kleiner Schnäpse; Wirthshausschwätzer, doch leicht verscheucht – kaum war vom neuesten Kirchhof die Red, so zahlt er und ging – sein Mißtrauen hat ihn nicht betrogen: Er ward als No 1 dort eingelegt. – Die große Bildnerin diesseits des Paradieses muß eben immer den alten Thon wieder hernehmen, um was Neues zurecht zu kneten. Die frischen Mädchen von dazumal sind krumm und runzlig geworden oder haben sich weggehustet. Neue Bäume, neue Häuser, neue Rotznäschen. Erst that ich mit, dann schaut' ich zu, schwebte drüber als lachendes Nichts. Aber auf die Dauer geht's nicht. Ein leises Zupfen und Mahnen, ein tüchtiger Rippenstoß, und man merkt's, daß man bei all den Dummheiten von Grund aus betheiligt ist, daß, wer auf den rechten Weg will, durchaus durch sich selbst hindurch muß. – Genug davon! – Bald wird's Frühling. Dann setz ich den imponderablen Hut auf und beschneide die Rosen. Aber zuvor noch, denk ich, schreibst Du, mein lieber Spektakelmacher, ein paar Worte an Deinen getreuen Freund

Wilh. Busch

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 260.
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