912. An Nanda Keßler

[8] 912. An Nanda Keßler


Wiedensahl 20 April 93.


Liebe Nanda!

Seit mehr als 4 Wochen hat eine diamantene Sonne, die kein Wölkchen trübte, auf uns hernieder geschmunzelt. Am Rehburger Berge, im Schaumburger Walde, putzen sich Birken und Buchen mit jungem Laub heraus. Langher über das Feld ziehen sich die grünen Bänder des Roggens. Der Kastanienboom, so hat er mir zugeflüstert, will demnächst seine tausend Blüthenkerzen anzünden; er wartet nur, daß die neckischen Nachtfröste erst weiter nach Norden ziehn. Aber die Staare brüten bereits. Ich ließ ihnen heuer im Garten einen hochstrebenden zackigen Eichstamm errichten, woran der Nachbar Schreiner 6 neue, wohnliche Kästchen befestigt hatte. Während nun die Weiblein drinnen hocken auf ihren Eiern, sitzen draußen die Männlein und schmatzen, flöten, klappern und fächeln mit den Flügeln dazu, wie der lustige Tirolerbub mit den Ellenbogen, die Daumen in der Weste, wenn er jodelt.

Doch das sind alte Geschichten für euch Südländer, bei denen der Frühling seine hübschen Sächelchen aufkramt, längst, eh er zu uns kommt.

Die beiden ganz kleinen Frauenzimmerchen am Harz hab ich neulich auch mal besucht. Die älteste tanzte dem Onkel was vor auf den Zehenspitzen und fragte: "Kannst du Solches auch, Onkel Wilhelm?" Und jedesmal, wenn sie sah, daß sich der Onkel eine Zigarrette angezündet hatte, blies sie ihm dienstbeflißen das Zündhölzel aus, und er, wie sich's geziemt, hat jedesmal danke! gesagt.

Und zuweilen neben ihm, wenn er las, stand das Wägelchen, worin das Kleinste schlief; mit noch leidlich gutem Gewißen, so schien's. Und hörte[8] er, daß sie erwachte, dann zog er leise den Vorhang zurück, und da liegt das Köpfchen und quer davor die zwei Händchen, und fest und ernst sehen ihn zwei dunkele Äuglein an; und läßt er ihm dann, auf der Decke entlang, die gespreizten Finger entgegen marschiren, so lacht's und ist sehr dankbar für diese kleine Zerstreuung.

Ja, die Dankbarkeit, man mag sagen was man will, ist doch stets vorhanden in der Welt; man muß nur genau zusehn.

Denn selbst schon Methusalem, als ihm Naëma, die hübsche, wenn schon etwas lockere, Erfinderin des weiblichen Putzes, zu seinem neunhundertundsoundsovielten Geburtstage gratulirte, nahm er sie beim linken Ohrwaschel und küßte sie auf die linke Backe, und dann nahm er sie beim rechten Ohrwaschel und küßte sie auf die rechte Backe, und dann nahm er sie bei beiden Ohrwascheln und küßte sie auf die Stirn und sprach: "Ich danke, mein Kind!"

Und so auch, im gegenwärtigsten Augenblick, regt und zeigt sich die Tugend der Dankbarkeit, indem ich schreibe: "Liebe Nanda! Es dankt Dir für dein feines Geburtstagsbrieflein und dem Harry für sein gutes Kärtlein und grüßt Euch insgesammt der

im Grund nicht seelenlose

Onkel Wilhelm;

Nie Bienenzüchter;

Stets Raupenvernichter;

Mitunter Feder- und Bleistift-Dichter.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 8-9.
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