930. An Johanna Keßler

[17] 930. An Johanna Keßler


Wiedensahl 14. Sept. 93.


Liebste Tante!

Ich sage Ihnen freundlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen. Obgleich man ja wohl wünschen möchte, es wären ein paar mehr gewesen, so sind's doch grad genug, um den handgreiflichaugenfälligen Beweis zu liefern, daß Sie noch immer leibhaftig und gesund auf demselben guten Stück unserer Erdkruste verweilen, das mir nun bereits seit circa 1000 Jahren so rühmlich bekannt ist.

Da Sie von Ihren diessommerlichen Erlebnißen nichts weiter andeuten, als die eindringliche Wirkung einer hohen Temperatur, so muß ich wohl das ergänzende Phantasiechen ein wenig zu Hülfe rufen. – Regelmäßig in aller Früh, so bild ich mir ein, während die Letty holdselig noch weiter träumte, ist das brave Mamachen, vom nächtlichen Lager hinweg, hinab in den Garten geschwebt, um daselbst, vereint mit der traulichen Harke, bei gemäßigter Thätigkeit, sich des "goldigen" Morgens zu freun. Tagsüber hingegen, schlau wie sie ist, verweilte sie lieber in den schattigen Räumen des Hauses, bis sie endlich der spätere Nachmittag, unwiderstehlich und pünktlich, dem hohen Thermometer zum Trotz, hinaus gelockt zur Ginheimer Höh, wo das "Tempelchen der Wärme" steht, im jüngstgepflanzten heiligen Haine – dem Birnen- und Äpfelhain, der heuer bereits, nach allen Berichten der kölnischen Zeitung, einen recht gesegneten Ertrag verspricht.

Was im Übrigen die Hitz und mich betrifft, da muß ich sagen: es hat mich gefreut, daß wir in diesem unsern Eskimoklima, wo Einem sonst, summa summarum, nur 14 warme Tage zugemeßen werden per Jahr, doch endlich mal einen herzhaftausdauernden Sommer hatten – 27° R. im Schatten mitunter. Dabei dann, so recht in der Sonn, zur Mittagszeit, gelaßen auf und ab spatziert, das trocknet, brät und tödtet die Grillenbacillen – vorausgesetzt, natürlich, eine stets kühl bereit stehende Hausflur zur Nachkur.

Allerdings, die Gießkannen und Regentonnen fühlten sich hohl und klapperig. Aber jetzt geht's ihnen ja wieder gut, gottseidank!

In die Welt hinaus rutscht ich nur ein paar Meilen weit, ein paar Tage lang. Nach Münster, dem westfälischen Rom. Ein beständiges Gebimmel und Gebammel der Glocken alldort. An jeder Ecke eine Kirche; jede arg vermöbelt von den Widertäufern; jede arg restaurirt von gesinnungstüchtigen Glasern, Anstreichern und Steinmetzen.

Nach Holland, scheint's, komm ich auch dies Jahr nicht mehr – und, so viel aus dem geheimen "Kongreß aller Dinge" verlautet, auch nicht nach Frankfurt an dem Main.

So ist's! – Das Schloß an der Gartenthür, die in's Weite führt, wird immer rostiger.

Heut früh, als ich das Fenster öffnete, sah ich Reif liegen auf dem Rasen, und silbern erglänzten die zierlichen Häkelarbeiten der kunstreichen Spinnen.

Leben sie wohl, liebste Tante! Und seien Sie herzlich gegrüßt mit Allen drum herum von

Ihrem alten

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 17.
Lizenz: