941. An Johanna Keßler

941. An Johanna Keßler


Wiedensahl 23. Dec. 93.


Meine liebe Tante!

Mit dem hübschen Büchlein und den Photographien haben Sie mir eine rechte Freude gemacht. Ich danke Ihnen herzlich dafür. Zwei stattliche Frauen-Bilder! Was die Eine betrifft, so wünscht der alte Onkel, daß der "Richtige" bald kommen möge: Der rechte Held, der ihr gefällt, und spricht: Oh, Letty, i wollt dich hätt i! Und wenn's Mütterlein nur fleißig weiter schürt, wird sich ja auch wohl eine Flamme zeigen, vielleicht auch ohnedies.

Morgen Abend, um den Baum herum, denk ich, giebts glückliche Augen; besonders zwei Bübchen-und zwei Mädchenaugen.

Bei uns hier wird es stiller zugehn. Wir sahen letzther etwas trüb in die Welt. In Hattorf lag das gute Hausmütterchen schlimm zu Bett, drei vier Monate lang, und ist noch immer nicht recht wieder auf. In Ebergötzen starb die Frau meines Freundes auf besonders schmerzhafte Weise. So kam ich nach beiden Orten lange nicht hin.

Zu Sylvester hoff ich, falls nichts dazwischen kommt, in Wolfenbüttel zu sein, wie es nun mal seit Jahren die Gewohnheit so mit sich bringt. Dort werd ich dann, bei der Bowle, mit einem entschiedenen Prosit Neujahr! meine guten Wünsche in der Richtung nach Frankfurt senden, indem ich mein Glas leere bis auf den Grund.

Leben Sie wohl, liebe Tante! Grüßen Sie mir all die Ihrigen recht herzlich, und erinnern Sie sich auch ferner freundlich, wie bisher, an Einen, der Sie auch nicht vergißt, nämlich den

Onkel Wilhelm.

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 22,293.
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