981. An Johanna Keßler

[38] 981. An Johanna Keßler


Wiedensahl 21. Oct. 94.


Liebste Tante!

Nachdem ich am Bahnhof in Frankfurt, wo ich zu meiner Freude noch die Letty und den Hugo sah, fast zwei ganze Gläser Portwein hinter die Binde gegoßen, drückte ich mich ins Eck und sauste um die Ginheimer Höh herum immer weiter nach Norden zu. "Wie gut hast Du's doch gehabt da, wo Du herkommst, alter Junge!" dacht ich fort und fort, und als ich bei Kaßel den Hasenbraten und das Brödchen und die saftige Birne vertilgte, dacht ich noch immer daßelbe. Auch mußten diese Abschiedsgaben wohl ungewöhnlich viel Nahrstoff enthalten haben, denn in Hannover braucht ich nur ein paar Frankfurter Bratwürst, um für diesen Tag in vollkommen befriedigender Weise den Magen zu schließen.

Natürlich! Als ich zu Haus anlangte, merkt ich, ich hatt mal wieder unterwegs, ich weiß nicht recht wo, mein Schirmdach vergeßen. An sich kein bedeutendes Ereigniß. Aber die Pflicht gebietet, es Ihnen mitzutheilen, damit Sie wißen, falls Sie's nicht längst schon gewußt haben, was von einem Reisetroddel, wie ich, zu erwarten ist, wenn wir mal zusammen Florenz besehn. – Oh, diese Droschke beim Archiv! Sie fährt mir noch immer auf der Seele herum, und, was das Schlimmst[e] dabei ist, das Gefühl ist mir gar nicht so unangenehm. –

Meine gute Schwester fand ich noch nicht wieder daheim; sie ist noch in Hunteburg bei den Neuvermählten. – Sonst war alles in Ordnung, und auch das Wetter ist noch genau so schlecht, wie es war, als ich wegreiste. –

Tausend Grüße, liebste Tante, an Sie und Alle, die Ihnen gehören von

Ihrem getreuen

Onkel Wilhelm.[38]

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 38-39.
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