994. An Nanda Keßler

[43] 994. An Nanda Keßler


Wiedensahl 9. Nov. 94.


Meine liebe Nanda!

Eine recht angenehme Gegend war's, wo ich mich diese letzten drei Tage her aufhielt, bei schönem Wetter obendrein. Einzelgehöfte; weiß gestrichene Bauernhäuser mit schwarzem Ständerwerk; hinter jedem ein Wäldchen; frischgrüne Roggenfelder drum herum; in der Ferne eine Kette von blauen Hügeln – und dann in einer der Hütten ein ehrsam "glücklich liebend Paar". Erfreulich zu sehn! –

Das rothe Büchlein, das du mir gegeben, will [ich] an den nächsten Abenden unter gebührender Aufmerksamkeit durchlesen. Du meinst: echte Liebesglut (vermuthlich die unheilige, weil du echt mit 'm ä schreibst) ließe Alles verzeihn und versöhne mit Vielem. – Hm, ja! Ich, als Einzelner, der auch ein Mensch ist, will ja gern Alles verzeihn; daß ich mich jedoch mit Dem aussöhnen sollte, was naturgemäß schmerzliche Folgen hat, wär doch zu viel verlangt. Diese Malefizliebesglut ist das Hauptfeuer unter dem brodelnden Hexenkeßel der Welt, und da die übrigen glühenden Liebhabereien, wie zum Exempel die Kleptomanie, die auch eine "ächte Liebesglut" für fremder Leut Sachen ist, noch dazu kommen, so würd alles kopfüber kopfunter gehn, hätte nicht schon längst die große und kleine Gesellschaft gewiße Zügel erfunden, um sie dem gar zu stürmischen Willen in's Maul zu legen. Wer trotzdem durchgehn möchte, muß sich demnach auf allerlei Unannehmlichkeiten und Hinderniße gefaßt machen. Aber überhaupt und außerdem und tiefer gefaßt: jede heftige Leidenschaft hat den Keim zu einer Tragödie im Leib. Vergeblich ist's zu sagen und zu klagen: Was kann ich denn dafür?! Das Schicksal, oder nenn's, wie du magst, ist ein strammer, unerbittlicher Reiter, der grad die wildesten Gäul nicht laufen läßt, wie sie wollen, sondern sie eher zu Tode jagt. – Jener "glühende Landschafter" starb wenigsten[s] redlich, so gut er's verstand; aber seine treulose Lügenkatrin holt vermuthlich der Teufel extra auf der Mistgabel. – Mehr neckisch geht's bei den andern Zwei her, von denen du schreibst. Sie hat's gejuckt, jetzt kann sie sich kratzen laßen von der Katz; und er hat die Hände voll Geld und die Ohren voll Stuß. Wer hat es am schlimmsten, er oder sie? –[43] Bleib gesund, liebe Nanda, mit deinen Kindern; und schreib mal wieder; und seid alle Drei zusammen recht herzlich gegrüßt von

Onkel Wilhelm.


Mein Buchhändler hat leider noch nichts wieder von sich hören laßen. –

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band II: Briefe 1893 bis 1908, Hannover 1969, S. 43-44.
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