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[38] Verschneite Straße in Wittenberg. Links einer der Eingänge zum Münster. Um die Ecke, an der nämlichen Mauer, ein lebensgroßes Kruzifix mit Kniestufe davor. Es ist Nacht.


DES NACHTWÄCHTERS STIMME (Mephistopheles).

Ihr Männer und Frauen, laßt euch sagen,

die Glocke hat Zehn geschlagen.

Zehn geschlagen.

Bewahrt das Feuer, bewahrt das Licht,

daß kein Schaden der Stadt geschieht,

Zehn ist die Glock'.

Es treten, nacheinander, einzelne Gruppen von Studenten auf, die vor dem Eingange des Hauses, das rechts dargestellt erscheint, sich aufstellen und versammeln. Zuletzt Wagner, ehemaliger Famulus, jetzt Rector Magnificus, umgeben von seinen Vertrauten.


ERSTER STUDENT. Die Antrittsrede Euerer Magnifizenz war unvergleichlich. –

EINIGE. Musterhaft. –

ANDERE. Meisterlich. –

ANDERE. Cum perfectione! –

ALLE akklamierend. Meinen Glückwunsch! Gratulor, – Doctor Christophorus Wagnerus, – Rector Magnificus.

WAGNER. Qualis orator, talis oratio. – Ich war wahrlich darauf nicht gefaßt.

MEHRERE. Sie hätten nicht glänzender Ihr hohes Amt antreten können.

EINER. Endlich der eines Fausten würdige Erbfolger!

ALLE. Gratulor, gratulor, gratulor![38]

WAGNER. Je nun, der Faust war mehr von einem Phantasten; als Gelehrter nicht eigentlich vollwichtig, und, gnad' uns Gott, sein Wandel war anstößig. Genug: ich bin das Feiern nicht gewohnt – die späte Stunde – die gewaltige Arbeit – kurzum, ihr Herren, gute Nacht.

Er zieht sich in das Haus zurück.


STUDENTEN.

Euerer Magnifizenz wohl zu ruhen.

Stimmet an! lala, lalala Silentium!


Klatschen dreimal in die Hände, mit den Akkorden zugleich.

Sie stimmen an.


Wenn das Wissen mit der Tugend

Würde sich dem Manne paart,

dann ergreifet unsre Jugend

Ehrfurcht vor dem langen Bart.

Hut ab vor dem alten Haus,

ihm gebühret summa laus.

Euerer Magnifizenz

alleruntertänigste Reverenz.

STIMME DES NACHTWÄCHTERS.

Ihr Männer und Frauen, laßt euch sagen,

die Glocke hat Elf geschlagen.

Bewahrt das Haus, bewahrt die Ehr',

daß der Nachbar nicht sich beschwer'.

Elf ist die Glock'.

Die Studenten, befangen geworden, brechen das Ritornell ab.


STUDENTEN nehmen das unterbrochene Ritornell wieder auf.

Wenn die Schöne mit der Tugend

Anmut sich den Mädchen eint,

dann ergreifet unsre Jugend – –

Der Nachtwächter schreitet im Hintergrunde über die Bühne.

Die Studenten flüchten wie Knaben um die nächste Ecke.
[39]

EINIGE.

– – die Flucht.

ANDERE.

Fugam.

ALLE.

Fugam, die Flucht.


Man hört die Studenten draußen zu Ende singen.


Dann ergreifet unsre Jugend

etwas, das am hellsten scheint.

Würde schreitet hölzern-alt,

Weisheit fühlt sich an so kalt.

Vor des Weibs Magnifizenz

allertiefste Reverenz.

Faust tritt auf. Auf den Eingangsstufen des Hauses eine Bettlerin, einen Säugling im Arm.


FAUST. Das Haus ist mir bekannt, es war das meine. Weiß auch, wessen das Licht einst, das dahinter glimmt. Da sitzest du, Pedant, auf meinem Stuhl, und wähnst dich sitzend höher als ich saß. O Nacht der Nächte, Stunde du der Stunden. Wie fass' ich euch, daß ihr mein krankes Herz mit mir versöhnet!

CHOR vom Innern der Kirche her.

Der Tag des Gerichts ruft uns herauf,

Alle Seelen folgen dem tönenden Licht.

Auferstehet!

Verhüllten Auges harren sie bang des erlösenden Richterwortes,

doch die Böses vollbrachten,

sind auf ewig verbannt.

FAUST. Quälendes Herz! Du kennst keine Vernunft!

Die Mutter lehrte mich, ein gutes Werk bringt Heilung dem, der's tut – –.

Welches Werk denn –?

Er erblickt, auf den Eingangsstufen des Hauses gekauert, eine Bettlerin, ein Kind im Arme.
[40]

Du ärmstes Weib, nicht elender als ich,

mein letztes Gut sei dein; ah!

Er erkennt die Herzogin.


– die Toten leben fort!

HERZOGIN streckt Faust das Kind entgegen.

Nimm, nimm das Kind,

zum dritten Male

schenk' ich es dir.

Noch ist es Zeit –

noch ist es Zeit, vollende,

vollende du vor Mitternacht das Werk.

Faust empfängt das Kind, die Bettlerin verschwindet.


FAUST.

Meine bösen Geister sie treiben ihr Spiel.

Ein Höherer soll euch bannen. Nun stehe,

Gott, mir bei!

Er will in die Kirche dringen, die plötzlich von innen hell erleuchtet erscheint. Aus der Kirchentür tritt der geharnischte Bruder und wehrt den Eingang.


CHOR.

Gott, der nicht immerdar

der Herr der Milde

und der Gnade ist,

zu Zeiten auch der Rache,

der Vergeltung und der Strafe,

als den du sollst ihn erkennen,

er hört nicht dein Gebet, nein, nein.

FAUST.

Auch du! Laß mich, laß mich!

Der Geharnischte streckt ihm das Schwert entgegen.


FAUST.

Hinweg, ich hab' zu beten!

Zergehe, du Höllenspuk, noch bin ich Herr!

Die Erscheinung schwindet. Faust schleppt sich, das Kind im Arm, zu den Stufen des Kruzifixes.
[41]

FAUST.

O, beten, beten! Wo die Worte finden?

Sie tanzen durchs Gehirn wie Zauberformeln. – –

Ich will wie ehmals aufschauen zu dir.

Er richtet den Kopf auf.

Der Nachtwächter, von hinten herangeschlichen, hebt seine Laterne. In ihrer Beleuchtung verwandelt sich der Gekreuzigte in Helena.


FAUST. Verdammnis! Gibt es keine Gnade? Bist du unversöhnbar?

Der Nachtwächter entfernt sich.

Faust reckt sich neu gekräftigt auf.


FAUST.

So sei das Werk vollendet.

Hilf, Sehnsucht,

Urzeugerin,

zwingende,

erfüllende Kraft,

dich ruf' ich an zu höchstem Tun.

Faust legt das tote Kind auf den Boden, deckt es mit seinem Mantel, löst den Gürtel, ... tritt in den Kreis.


FAUST beschwörend, verzückt.

Blut meines Blutes

Glied meines Gliedes,

Ungeweckter,

Geistig-reiner,

noch außerhalb aller Kreise

und mir in diesem

innigst verwandt,

dir vermach' ich mein Leben:

es schreite

von der erdeingebissenen Wurzel

meiner scheidenden Zeit

in die luftig knospende Blüte

deines werdenden Seins.[42]

So wirk' ich weiter in dir,

und du zeuge fort

und grabe tiefer und tiefer

die Spur meines Wesens

bis an das Ende des Triebes.

Was ich verbaute,

richte du grade,

was ich versäumte,

schöpfe du nach,

so stell' ich mich

über die Regel,

umfaß in Einem

die Epochen

und vermenge mich

den letzten Geschlechtern:

ich, Faust,

ein ewiger Wille!

Er stirbt.


STIMME DES NACHTWÄCHTERS (Mephistopheles).

Ihr Männer und Frauen, laßt euch sagen,

das Wetter hat umgeschlagen,

der Frost kündigt sich an,

die Glocke schlägt die Mitternacht.

An der Stelle, wo das tote Kind lag, ist ein nackter, halbwüchsiger Jüngling aufgestiegen, einen blühenden Zweig in der Rechten. Mit erhobenen Armen schreitet er über den Schnee in die Nacht und in die Stadt hinein. Der Nachtwächter (Mephistopheles) erscheint und leuchtet mit der Laterne über den dahingestreckten Faust.


MEPHISTOPHELES.

Sollte dieser Mann verunglückt sein?

Vorhang


Finis.
[43]

Quelle:
Ferruccio Busoni: Doktor Faust, Wiesbaden 1953, S. 38-44.
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