Fünftes Kapitel.

[142] Erzählt das große Abenteuer von der Höhle des Montesinos, die sich im Herzen von la Mancha befindet, welches der tapfere Don Quixote von la Mancha glücklich vollbrachte.


Groß und vielfach waren die Ehrenbezeigungen, die die Neuvermählten dem Don Quixote erwiesen, von dem Anteil verpflichtet, den er gezeigt hatte, indem er ihre Sache verteidigte, und seiner Tapferkeit stellten sie seine Klugheit gleich; denn sie meinten, daß er ein Cid in den Waffen und ein Cicero in der Beredsamkeit sei. Der wackere Sancho pflegte sich drei Tage hindurch auf Kosten der jungen Eheleute, von denen man jetzt erfuhr, daß die verstellte Verwundung kein abgeredeter Plan mit der schönen Quiteria gewesen sei, sondern eine Erfindung des Basilio, der sich den glücklichen Erfolg davon versprochen hatte, der auch eingetroffen war. Er gestand aber auch ein, daß er einigen von seinen Freunden seinen Vorsatz mitgeteilt habe, um zur rechten Zeit seine Absicht zu begünstigen und seinen Betrug zu unterstützen.

»Man kann und soll das nicht Betrug nennen«, sagte Don Quixote, »was einen tugendhaften Endzweck hat; und ein durchaus löblicher Endzweck ist der, wenn sich zwei Liebende vermählen wollen. Doch muß man bedenken, daß der größte Feind, den die Liebe hat, Hunger und fortwährender Mangel ist; denn die Liebe besteht aus Freude, Ergötzen und Zufriedenheit, besonders wenn der Liebende im Besitze des geliebten Gegenstandes ist, wogegen sich Mangel und Armut als offenbare Feinde erklären, was ich in der Absicht sage, damit es der Herr Basilio nunmehr unterlasse, die Talente noch weiter auszubilden,[143] die er schon besitzt; denn wenn sie auch Ruhm geben, so geben sie doch kein Geld, er aber muß sich nunmehr bemühen, durch erlaubte Mittel und Wege Vermögen zu erwerben, denn diese fehlen verständigen und geschickten Leuten niemals. Der ehrenvolle Arme – wenn der Arme nämlich ehrenvoll sein kann – besitzt ein Kleinod an einer schönen Frau, und wenn ihm dieses entrissen wird, wird ihm auch seine Ehre entrissen und ermordet. Die schöne und tugendhafte Frau, deren Gatte arm ist, verdient mit Lorbeeren und Kränzen des Sieges und Triumphes gekrönt zu werden. Die Schönheit lockt durch sich selbst die Aufmerksamkeit aller herbei, die sie sehen und erkennen, und wie auf eine schöne Lockspeise stürzen die königlichen Adler und die hoch fliegenden Vögel herunter; ist aber diese Schönheit mit Armut und Dürftigkeit verbunden, so machen sich auch Raben, Geier und anderes Raubgeflügel herbei, und diejenige, die allen diesen Angriffen widersteht, verdient wohl, die Krone ihres Mannes genannt zu werden. Erwägt, mein verständiger Basilio«, fuhr Don Quixote fort, »daß es die Meinung, ich weiß nicht welches Weltweisen, war, daß es in der ganzen Welt nur ein einziges gutes Weib gebe und daß er riete, ein jeder möchte glauben, daß es die Seinige sei, und so würde jeder zufrieden leben. Ich bin nicht verheiratet, habe auch bisher noch nicht den Entschluß gefaßt, es zu sein; aber dennoch wollte ich mich unterstehen, dem, der mich darum bäte, Rat zu erteilen, wie er sich eine Frau suchen müsse, mit der er sich verbinden wolle. Zuerst würde ich ihm raten, mehr auf den Ruf als auf das Vermögen zu sehen; die gute Frau erhält nicht bloß dadurch einen guten Ruf, daß sie gut ist, sondern daß sie es scheint, denn Unachtsamkeit und Freiheiten, die sich die Weiber öffentlich nehmen, tun ihrer Ehre weit mehr Schaden als verborgene Schlechtigkeiten. Führst du ein gutes Weib in dein Haus, so ist es etwas Leichtes, ihr Gutes zu bewahren, ja es noch besser machen; ist sie aber böse, so wirst du viele Mühe haben, sie gut zu machen, denn es ist etwas Seltenes, daß ein Äußerstes sich in sein Gegenteil verwandelt. Ich sage nicht, daß es unmöglich sei; aber ich halte es doch für sehr schwierig.«

Alles dies hörte Sancho mit an und sagte zu sich selber: »Dieser mein Herr, wenn ich einmal gescheite und körnige Sachen vortrage, pflegt zu sagen, ich könnte auf die Kanzel steigen und mich mit Predigen ernähren, aber ich sage von ihm, daß, wenn er einmal anfängt, Sentenzen zu sprechen und Rat zu erteilen, er wohl auf zwanzig Kanzeln steigen und es von sich geben könnte, wie es das Herz nur wünscht. Hol's der Teufel, wenn er bloß irrender Ritter ist, denn er weiß ja alle Dinge! Ich dachte in meinen Gedanken, daß er nur das wüßte, was zu seiner Ritterschaft gehört; aber es gibt nichts auf der Welt, wovon er nicht auch nascht oder sein Messer mit einsetzt.«

Sancho murmelte dies vor sich hin, doch sein Herr hörte etwas davon und fragte: »Was murmelst du, Sancho?«

»Ich sage nichts, ich murmele nichts«, antwortete Sancho; »ich sprach nur mit mir selber, wie gern ich Euch so hätte sprechen hören vor meiner Heirat, denn so könnte ich nun vielleicht sagen: Der ausgespannte Ochse leckt sich, wo er will.«

»Ist denn deine Therese so schlimm, Sancho?« fragte Don Quixote.

»Sie ist eben nicht so sehr schlimm«, antwortete Sancho; »aber sie ist auch nicht so sehr gut, wenigstens nicht so, wie ich sie gern hätte.«

»Du tust übel, Sancho«, sagte Don Quixote, »übel von deiner Frau zu sprechen; denn sie ist doch immer die Mutter deiner Kinder.«

»Wir bleiben uns nichts schuldig«, antwortete Sancho; »denn sie spricht auch übel von mir, wenn es ihr einfällt, vorzüglich wenn sie eifersüchtig ist, dann könnte sie der Satan selber nicht ausstehen.«

Drei Tage blieben sie bei den Neuvermählten, wo man sie bediente und ihnen so aufwartete, als wenn sie Fürsten gewesen wären.[144]

Don Quixote bat den Lizentiaten Fechtmeister, ihm einen Wegweiser zu verschaffen, der ihn nach der Höhle des Montesinos brächte; denn er hegte die größte Begierde, hineinzudringen und mit eigenen Augen zu sehen, ob alle die Wunderdinge wahr wären, die man sich in den dortigen Gegenden erzählte. Der Lizentiat sagte, daß er ihm seinen Vetter mitgeben wolle, einen gelehrten Studenten und großen Liebhaber der Ritterbücher, der ihn sehr gern zum Eingange der Höhle führen und ihm auch die Lagunen der Ruidera zeigen würde, die in ganz la Mancha und selbst in ganz Spanien berühmt sind. Er sagte ihm zugleich, daß er an ihm eine sehr angenehme Unterhaltung finden würde; denn dieser junge Mensch wisse schon gut damit umzugehen, Bücher für den Druck zu schreiben und sie Fürsten zu dedizieren.

Der Vetter kam auch wirklich auf einer schwangeren Eselin an, über deren Reitkissen eine bunte Tapete oder ein Stück gewirkten Teppichs gebreitet war. Sancho sattelte den Rozinante und machte seinen Grauen zurecht, versah seinen Schnappsack, zu dem auch der gut versorgte des Vetters gefügt wurde; dann empfahlen sie sich Gott, nahmen von allen Abschied und machten sich auf den Weg nach der berühmten Höhle des Montesinos.

Unterwegs fragte Don Quixote den Vetter, von was für Art seine Übungen, sein Stand und seine Studien wären. Worauf jener antwortete, seinem Stande nach sei er ein Gelehrter, seine Übungen und Studien aber beständen darin, Bücher für den Druck zu verfassen, die alle ebensosehr zum Nutzen als zur Unterhaltung des Publikums gereichten. Das eine führe den Titel: Das Buch von den Aufzügen, in welchem sechshundertunddrei Aufzüge mit ihren Farben, Denksprüchen und Devisen abgeschildert sind, wo vornehme Ritter bei öffentlichen Festen und Feierlichkeiten eine Auswahl treffen können, ohne bei anderen eine Erfindung zu suchen oder sich selber den Kopf damit zu zerbrechen, etwas ihren Absichten und Wünschen Entsprechendes auszudenken. »Denn hier ist dem Eifersüchtigen, dem Verschmähten, dem Vergessenen und dem Abwesenden zugeteilt, was sich für sie paßt, so genau, wie mit der Elle abgemessen. Ich habe auch ein anderes Buch, welches den Titel führen soll: Metamorphosen oder der spanische Ovidius. Die Erfindung davon ist neu und anmutig; denn indem ich dem Ovidius auf eine komische Weise nachahme, schildere ich, wer die Giralda von Sevilla gewesen und der Engel der Magdalenenkirche, wer der Kanal des Venciguerra zu Kordova oder die Stiere von Guisando, das Schwarze Gebirge, die Brunnen von Leganitos und der Fußwäsche zu Madrid, nicht den von der Laus oder den von der vergoldeten Röhre und der Priorin zu vergessen; alle diese Sachen sind Allegorien, Metaphern und Verwandlungen, so daß sie zu gleicher Zeit belustigen, unterhalten und belehren. Ein anderes Buch von mir führt den Titel: Supplement zum Virgilius Polidorus, welches von der Erfindung der Dinge handelt und viel Gelehrsamkeit und Studium enthält, denn alle Sachen, die Polidorus ausgelassen hat und die sehr wichtig sind, werden von mir ergänzt und in einem artigen Stile beschrieben. So hat Virgilius zu sagen vergessen, wer der erste in der Welt gewesen, der einen Katarrh gehabt, sowie wer zuerst die Einreibungen gebraucht, um sich von der französischen Seuche zu heilen. Dies wird von mir nun deutlich auseinandergesetzt und aus mehr denn fünfundzwanzig Autoren bestätigt, woraus Ihr, mein Herr, urteilen könnt, ob ein solches Buch nicht viele Arbeit kostet und der ganzen Welt von großem Nutzen sein muß.«

Sancho, welcher der Rede des Vetters sehr aufmerksam zugehört hatte, sagte zu ihm: »Sagt mir doch, mein Herr, wie Euch Gott den Druck Eurer Bücher gesegnen möge, wißt Ihr mir wohl zu sagen, wie Ihr gewiß wißt, da Ihr alles wißt, wer der erste gewesen, der sich den Kopf gekratzt? denn ich bin der Meinung, daß es unser erster Vater Adam gewesen sein müsse.«

»So wird es auch sein«, antwortete der Vetter, »denn es leidet keinen Zweifel, daß Adam einen Kopf und Haare hatte, und wenn dem so ist, so wird er sich doch wohl einmal, da er der erste Mensch auf der Welt war, gekratzt haben.«[147]

»Das glaub ich auch«, antwortete Sancho; »aber sagt mir doch nun, wer war der erste in der Welt, der einen Purzelbaum schoß?«

»Wahrhaftig, Freund«, antwortete der Vetter, »das kann ich Euch nicht so aus dem Kopfe und ohne Studium sagen. Ich will aber darauf studieren, wenn ich zu meinen Büchern zurückkomme, und Euch Antwort geben, wenn wir uns einmal wiedersehen; denn dieses wird doch wohl nicht das letzte Mal sein.«

»Nun seht, mein Herr«, versetzte Sancho, »Ihr braucht Euch deshalb keine Mühe zu geben; denn mir ist gleich selber die Antwort eingefallen. Denn der erste, der in der Welt einen Purzelbaum schoß, war Luzifer, als sie ihn aus dem Himmel schmissen oder schleuderten; denn damals purzelte er bis in den Abgrund hinunter.«

»Du hast recht, Freund«, sagte der Vetter. Und Don Quixote sagte: »Diese Frage und Antwort hast du nicht erfunden, Sancho; du hast sie von einem andern gehört.«

»Seid still, gnädiger Herr«, versetzte Sancho; »denn wenn ich mich auf Fragen und Antworten lege, so will ich es von jetzt bis morgen früh aushalten. O nein, um Narrenpossen zu fragen und albernes Zeug zu antworten, brauche ich nicht erst meinen Nachbar um Hülfe zu bitten.«

»Du hast verständiger gesprochen, Sancho, als du wolltest«, sagte Don Quixote; »denn es gibt Leute, die sich bemühen, Dinge zu erfahren und auszumachen, die, wenn sie nachher bekannt und ausgemacht sind, weder dem Verstande noch dem Gedächtnisse einen Heller wert sind.«

Unter diesen und anderen anmutigen Gesprächen verging der Tag; die Nacht herbergten sie in einem kleinen Orte, von wo, wie der Vetter zu Don Quixote sagte, die Höhle des Montesinos nur noch zwei Meilen entfernt sei, und wenn er noch den Entschluß habe, hineinzusteigen, so sei es notwendig, sich mit Seilen zu versehen, um ihn daran festzubinden und so in die Tiefe hinunterzulassen.

Don Quixote sagte, daß, wenn er auch zur Hölle steigen müsse, so wolle er sehen, wo diese Höhle endige. Deshalb kauften sie an hundert Ellen Seile, und am folgenden Tage kamen sie zwei Stunden nach Mittage bei der Höhle an, deren Eingang groß und geräumig war, aber dicht mit Dornensträuchen und Disteln, wilden Gebüschen und Hecken verwachsen, so daß die Höhle gänzlich verfinstert und bedeckt war. Als sie sie ansichtig wurden, stiegen der Vetter, Sancho und Don Quixote ab, worauf ihm die beiden sogleich die Seile befestigten; und indem er eingeschnürt wurde, sagte Sancho zu ihm: »Bedenkt doch, mein gnädiger Herr, was Ihr tun wollt; begrabt Euch doch nicht lebendig; laßt Euch doch nicht so wie eine Flasche herunter, die man im Brunnen kühl erhalten will! Die Sache geht Euch ja nichts an, es ist ja nicht Euer Amt, das Loch da zu erforschen, welches schlimmer als ein unterirdischer Kerker sein muß.«

»Binde du und schweig«, antwortete Don Quixote; »denn ein Unternehmen wie dieses, Freund Sancho, ist mir aufbewahrt.«

Der Führer sagte hierauf: »Ich bitte Euch, gnädiger Herr Don Quixote, daß Ihr wohl zusehen möget und mit hundert Augen alles erspähen, was sich dort unten befindet, denn vielleicht finden sich Dinge, die ich in meinem Buche von den Verwandlungen brauchen kann.«

»Die Zither ist in der Hand, die sie wohl zu spielen weiß«, antwortete Sancho Pansa.

Nachdem dies gesprochen und Don Quixote hinlänglich befestigt war – er hatte die Seile aber nicht über der Rüstung, sondern über seinem Waffenrock –, sagte Don Quixote: »Wir haben nicht vorsichtig gehandelt, daß wir uns nicht mit einem Glöckchen versehen haben, welches man neben mir an diesem Seile festmachen konnte, durch dessen Ton man vernommen hätte, daß ich ganz unten und am Leben sei; da es aber jetzt nicht mehr möglich ist, so übergebe ich mich der Hand Gottes, die mich führen soll.« Zugleich kniete er nieder und betete mit leiser Stimme zum Himmel, indem er Gott um seinen Beistand bat, wie um einen glücklichen Ausgang dieses dem Anscheine nach unerhörten und gefährlichen Abenteuers.Hierauf sprach er mit lauter Stimme: »O du Gebieterin meiner Handlungen und Gedanken, leuchtende und unvergleichliche Dulcinea von Toboso! Ist es möglich, daß die flehentlichen Bitten dieses deines glücklichen Liebhabers dein Gehör erreichen, so flehe ich bei deiner nie erhörten Schönheit, daß du ihn hören mögest; denn ich flehe dich nur an, daß du mir deine Hülfe und deinen Beistand nicht entziehen mögest, die ich jetzt nötig brauche. Ich gehe, mich zu stürzen, zu tauchen und zu versenken in diesen Abgrund, den ich hier vor mir sehe, bloß damit die Welt erfahre, daß, wenn du mich begünstigst, es keine Unmöglichkeit gebe, die ich nicht unternehme und beendige.« Als er dies gesagt hatte, näherte er sich dem Eingange, und da er sah, daß es keine Möglichkeit sei, sich anders als mit der Kraft des Armes und mit dem Degen der Öffnung zu nähern, ergriff er sein Schwert und hieb und schnitt damit in die Gebüsche, die vor dem Schlunde der Höhle standen; bei welchem Geräusch und Lärmen ein unzähliger Schwarm der größten Raben und Dohlen so gedrängt und so pfeilschnell herausflogen, daß sie den Don Quixote zu Boden warfen. Und wäre er ebensosehr ein abergläubischer als ein katholischer Christ gewesen, so hätte er dieses für eine üble Vorbedeutung genommen und es unterlassen, in einen solchen Ort sich zu verschließen.

Er stand endlich wieder auf, und da er sah, daß keine Raben oder andere Nachtvögel mehr herausflogen, wie Fledermäuse, die sich auch unter den Raben befunden hatten, so gab er dem Vetter und Sancho das Seil, und diese ließen ihn auf den Grund der furchtbaren Höhle hinunter. Als er hineinstieg, gab ihm Sancho seinen Segen, machte tausend Kreuze über ihn und sagte: »Gott geleite dich und die Jungfrau Maria und die ganze Dreieinigkeit, du Blume, Ausbund und Blüte aller irrenden Ritter! Da gehst du nun hin, du Starrsinn der Welt, du stählernes Herz, du eherner Arm! Gott führe dich zurück und bringe dich wieder frei, gesund und ohne Schaden an das Licht dieses Lebens, welches du verlässest, um dich in der Finsternis zu begraben, die du aufsuchst!«

Fast die nämlichen Wünsche und Gebete gab ihm der Vetter mit. Don Quixote rief immer, sie sollten mehr und mehr Seil herunterlassen, und sie ließen es nach und nach herunter; und als das Rufen, welches aus dem Schlunde der Höhle heraufgedrungen war, aufgehört hatte, hatten sie auch schon alle hundert Ellen von dem Seile hinuntergelassen. Sie waren der Meinung, daß sie Don Quixote wieder heraufziehen wollten, weil sie ihn nicht tiefer versenken konnten; doch warteten sie wohl eine halbe Stunde, nach welchem Zeitraume sie anfingen, das Seil mit der größten Leichtigkeit heraufzuziehen, weil sie gar kein Gewicht daran spürten, woraus sie schließen mußten, daß Don Quixote drinnen geblieben sei; und da Sancho dies glaubte, weinte er bitterlich und zog in der größten Hast, um die Wahrheit zu erfahren. Da sie aber etwas mehr als achtzig Ellen heraufgezogen hatten, fühlten sie wieder eine Last, worüber sie sehr froh wurden. Endlich, nachdem noch zehn Ellen übrig waren, konnten sie Don Quixote bestimmt unterscheiden, worüber Sancho aufschrie und sagte: »Seid mir wieder willkommen, mein gnädiger Herr, denn wir dachten, man hätte Euch unten behalten, um die Art fortzupflanzen.« Don Quixote antwortete nichts, und als sie ihn ganz herauszogen, sahen sie, daß er die Augen geschlossen habe und fest eingeschlafen sei. Sie legten ihn auf die Erde und banden ihn los, aber er wachte von alledem nicht auf. Sie wandten ihn aber so lange hin und her, schüttelten und rupften ihn, daß er endlich nach geraumer Zeit wieder zu sich kam, sich dehnte, als wenn er aus einem schweren und tiefen Traume erwachte, sich wie erschreckt von einer und der andern Seite umschaute und sagte: »Gott möge es Euch, meine Freunde, verzeihen, daß Ihr mir das anmutigste und schönste Leben und Gesicht entzieht, welches ein Mensch nur jemals geführt oder gesehen hat. Wahrlich, jetzt sehe ich ein, daß alle Vergnügungen dieser Welt wie Schatten und Traum verfliegen oder wie die Blume des Feldes verwelken! O unglücklicher Montesinos! O schwer verwundeter Durandarte! O elende Belerma! O weinender Guadiana und Ihr übrigen trostlosen[153] Töchter der Ruidera, die Ihr mit Euren Gewässern zeigt, wie reichliche Tränen Eure schönen Augen vergossen haben!«

Mit der größten Aufmerksamkeit hörten der Vetter und Sancho auf diese Worte Don Quixotes, die er, wie von einem schrecklichen Schmerze gepeinigt, aus der tiefsten Brust aussprach. Sie baten ihn, seine Meinung deutlich zu machen und ihnen zu sagen, was er in jener Hölle gesehen habe.

»Hölle nennt Ihr es?« sagte Don Quixote; »nennt es nicht also, denn es verdient den Namen nicht, wie Ihr sogleich sehen werdet.«

Er verlangte etwas zu essen, weil er einen ganz außerordentlichen Hunger habe. Sie deckten den Teppich des Vetters auf das grüne Gras und holten den Inhalt ihrer Schnappsäcke hervor, worauf sich alle drei sehr friedlich und gesellig niedersetzten und zu gleicher Zeit ihr Vesper- und Abendbrot verzehrten. Als der Teppich abgehoben war, sprach Don Quixote von la Mancha: »Bleibt sitzen, und nun, meine Kinder, hört mir alle aufmerksam zu!«

Quelle:
Cervantes Saavedra, Miguel de: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Berlin 1966, Band 2, S. 142-145,147-149,153-154.
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