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Der Birnbaum auf dem Walserfeld

[340] Es ward von unsern Vätern mit Treuen uns vermacht

Die Sage, wie die Väter sie ihnen überbracht;

Wir werden unsern Kindern vererben sie aufs neu;

Es wechseln die Geschlechter, die Sage bleibt sich treu.


Das Walserfeld bei Salzburg, bezeichnet ist der Ort,

Dort steht ein alter Birnbaum verstümmelt und verdorrt,

Das ist die rechte Stätte, der Birnbaum ist das Mal,

Geschlagen und gewürget wird dort zum letzten Mal.


Und ist die Zeit gekommen und ist das Maß erst voll, –

Ich sage gleich das Zeichen, woran man's kennen soll, –

So wogt aus allen Enden der sündenhaften Welt

Der Krieg mit seinen Schrecken heran zum Walserfeld.


Dort wird es ausgefochten, dort wird ein Blutbad sein,

Wie keinem noch die Sonne verliehen ihren Schein,

Da rinnen rote Ströme die Wiesenrain' entlang,

Da wird der Sieg den Guten, den Bösen Untergang.


Und wann das Werk vollendet, so deckt die Nacht es zu,

Die müden Streiter legen auf Leichen sich zur Ruh,

Und wann der junge Morgen bescheint das Blutgefild,

Da wird am Birnbaum hangen ein blanker Wappenschild.


Nun sag ich euch das Zeichen: ihr wißt den Birnbaum dort,

Er trauert nun entehret, verstümmelt und verdorrt;[340]

Schon dreimal abgehauen, schlug dreimal auch zuvor

Er schon aus seiner Wurzel zum stolzen Baum empor.


Wann nun sein Stamm, der alte, zu treiben neu beginnt,

Und Saft im morschen Holze aufs neu lebendig rinnt;

Und wann den grünen Laubschmuck er wieder angetan,

Das ist das erste Zeichen: es reift die Zeit heran.


Und hat er seine Krone erneuet dicht und breit,

So rückt heran bedrohlich die lang verheißne Zeit;

Und schmückt er sich mit Blüten, so ist das Ende nah;

Und trägt er reife Früchte, so ist die Stunde da.


Der heuer ist gegangen zum Baum und ihn befragt,

Hat wundersame Kunde betroffen ausgesagt;

Ihn wollte schier bedünken, als rege sich der Saft

Und schwöllen schon die Knospen mit jugendlicher Kraft.


Ob voll das Maß der Sünde? ob reifet ihre Saat

Der Sichel schon entgegen? ob die Erfüllung naht?

Ich will es nicht berufen, doch dünkt mich eins wohl klar:

Es sind die Zeiten heuer gar ernst und sonderbar.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 340-341.
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