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[152] Süßer Freund, du blicktest

Mich verwundert an,

Kannst es nicht begreifen,

Wie ich weinen kann;

Laß der feuchten Perlen

Ungewohnte Zier

Freudenhell erzittern

In den Wimpern mir.


Wie so bang mein Busen,

Wie so wonnevoll!

Wüßt ich nur mit Worten,

Wie ich's sagen soll;

Komm und birg dein Antlitz

Hier an meiner Brust,

Will ins Ohr dir flüstern

Alle meine Lust.
[152]

Hab ob manchen Zeichen

Mutter schon gefragt,

Hat die gute Mutter

Alles mir gesagt,

Hat mich unterwiesen,

Wie, nach allem Schein,

Bald für eine Wiege

Muß gesorget sein.


Weißt du nun die Tränen,

Die ich weinen kann,

Sollst du nicht sie sehen,

Du geliebter Mann;

Bleib an meinem Herzen,

Fühle dessen Schlag,

Daß ich fest und fester

Nur dich drücken mag.


Hier an meinem Bette

Hat die Wiege Raum,

Wo sie still verberge

Meinen holden Traum;

Kommen wird der Morgen,

Wo der Traum erwacht,

Und daraus dein Bildnis

Mir entgegen lacht.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 152-153.
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