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[154] Traum der eignen Tage,

Die nun ferne sind,

Tochter meiner Tochter,

Du mein süßes Kind,

Nimm, bevor die Müde

Deckt das Leichentuch,

Nimm ins frische Leben

Meinen Segensspruch.
[154]

Siehst mich grau von Haaren,

Abgezehrt und bleich,

Bin, wie du, gewesen

Jung und wonnereich,

Liebte, wie du liebest,

Ward, wie du, auch Braut,

Und auch du wirst altern,

So wie ich ergraut.


Laß die Zeit im Fluge

Wandeln fort und fort,

Nur beständig wahre

Deines Busens Hort;

Hab ich's einst gesprochen,

Nehm ich's nicht zurück:

Glück ist nur die Liebe,

Liebe nur ist Glück.


Als ich, den ich liebte,

In das Grab gelegt,

Hab ich meine Liebe

Treu in mir gehegt;

War mein Herz gebrochen,

Blieb mir fest der Mut,

Und des Alters Asche

Wahrt die heil'ge Glut.


Nimm, bevor die Müde

Deckt das Leichentuch,

Nimm ins frische Leben

Meinen Segensspruch:

Muß das Herz dir brechen,

Bleibe fest dein Mut,

Sei der Schmerz der Liebe

Dann dein höchstes Gut.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 154-155.
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