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[463] Mit Ingrimm mochte nur sein Werk betrachten

Der Meister, der davor nachsinnend stand;

Er ward versucht sich selber zu verachten.

Er hat mit Kunst, mit Fleiße, mit Verstand

Das Bild des Heilands hingestellt, allein

Ein Bild, ein totes Bild von Menschenhand.

Das Leben drang in diesen Block nicht ein;

Nicht kann, was Fleisch nicht ward, den Schmerz empfinden,

Der tück'sche Marmor bleibt ein starrer Stein.

Mag Ebenmaß und schöne Form sich finden,

Nicht will des kunstgeübten Meißels Spur

Vor der erwachenden Natur verschwinden:

Natur! o wende dich nicht ab, Natur!

Ich will zum Ideal dich schon erheben;

Allein du schweigst, ein Pfuscher bin ich nur!

Und eingetreten in die Werkstatt eben,

Dem Meister steht ein Jünger seiner Kunst

Zur Seite, frommem Anschaun hingegeben.

Der buhlet um derselben Muse Gunst,

Berauschet sich am Anblick hier des Schönen,

Und fühlt, sein eignes Streben sei nur Dunst.[463]

Zu ihm der Meister: »Willst du mich verhöhnen?

Du staunest diesen kalten Marmor an,

Als wolltest du dem Tode dich gewöhnen.«

Der Fremde drauf: »Du wundersamer Mann,

Mag deinen Christus auch des Todes Ruh

So schweigsam, so absonderlich umfahn;

Dem Großen, Schönen schau ich staunend zu,

In mich es lernbegierig einzusaugen;

Was da ist, frag ich bloß, was mangelt, du.«

Und auf dem Fremden ruhn des Meisters Augen –

Der Jugend Kraft, der hohen Schönheit Zier, –

Ihm möcht ein solcher zum Modelle taugen. –

»Du Jüngling, findest mich verzweifelnd schier; –

Wie Schmerz und Leben aus dem Stein zu schlagen?

Das Anschaun der Natur verläßt mich hier.

Vergeblich wär's, nach Mietlingen zu fragen,

Und bät ich dich, den edlen Kunstgenossen,

Du würdest deine Hülfe mir versagen.«

»Ich würde«, sprach der Jüngling, »unverdrossen,

Der Kunst zum Frommen und zu Gottes Ruhme,

Dir leisten, was zu heischen du beschlossen.«

Er sagt's, und strenger Schönheit seltne Blume

Enthüllt sofort dem Meister sich zur Schau

In der verschloßnen Werkstatt Heiligtume.

Er prüft mit Kennerblick und prüft genau,

Und kann sich dem Gedanken nicht entwinden:

Durchzuckte Schmerz den edeln Gliederbau! –

»Und soll ich, was du sprachst, bewähret finden,

So mußt du mir von diesem Holze hangen.«

Der Jüngling läßt ans Kreuz sich willig binden.

Und wie er in die Schlingen ihn gefangen,

Die Nägel holt, den Schlägel er herbei,

Das Opfer muß den Martertod empfangen.

Der erste Nagel faßt, es schallt ein Schrei,

Er trifft kein Ohr, kein Herz, das Auge wacht

Allein und forscht, was Schmerzensausdruck sei.

Und hastig wird das Gräßliche vollbracht,

Und schnell das blut'ge Vorbild aufgestellt,

Er schreitet nun zur Arbeit mit Bedacht.

Von grauser Freude wird sein Blick erhellt,

Wie der Natur er jetzt es abgewonnen,[464]

Wie sich im Schmerz ein schöner Leib verhält.

Die Hand schafft unablässig und besonnen,

Das Herz ist allem Menschlichen verdorrt,

Zu fühlen hat der harte Stein begonnen;

Ob aber bete der am Kreuze dort,

Ob er in hoffnungsloser Qual verzage,

Er meißelt unablässig fort und fort.

So kommt die Nacht heran vom dritten Tage;

Verschmachtet wird der Dulder bald erblassen,

Und bald verhallen seine letzte Klage. –

»Mein Gott, mein Gott, so hast du mich verlassen!«

Es sinkt das Haupt, das sich erhob, zurück;

Es ist vollbracht, was keine Worte fassen,

Und auch vollendet ist ein Meisterstück.


Quelle:
Adalbert von Chamisso: Sämtliche Werke. Band 1, München [1975], S. 463-465.
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